Intensive und langanhaltende Niederschläge führten im August 2005 am Alpennordhang zu aussergewöhnlichen Abflüssen und Seeständen, es kam zu Überflutungen, Erosionen, Rutschungen und Murgängen. Die Unwetter forderten in der Schweiz sechs Todesopfer und verursachten Sachschäden in der Höhe von über 3 Mrd. Franken. Betroffen waren rund 900 Gemeinden und Orte wie Engelberg oder Lauterbrunnen blieben tagelang von der Umwelt abgeschnitten. “Mit dem wiederholten Auftreten ähnlicher Hochwasser muss auch in Zukunft gerechnet werden”, ist in der 2007 erschienenen Analyse zu den Ereignissen zu lesen. Die Hochwasser 2024 in Graubünden, Tessin und Wallis bestätigen dies. Der hohe Schaden von 2005 war, wie bereits beim zweitgrössten Ereignis von 1987, nicht zuletzt durch massive Ausdehnung der Siedlungen und Infrastrukturen in die Gefahrengebiete entstanden.
Nidwalden stark betroffen
Auch der Alpenkanton Nidwalden hat beim Unwetter von 2005 grosse Sachschäden erlitten. Schätzungen zur gesamten Schadenssumme variieren zwischen 110 und 130 Millionen Franken. Das ist viel, insbesondere für einen so kleinen Kanton mit einer Fläche von knapp 276 Quadratkilometern und rund 45’000 Einwohnenden. Und trotzdem ist Nidwalden glimpflich davongekommen. Denn zum Zeitpunkt des Unwetters war die Umsetzung eines grossangelegten Hochwasserschutz-Projektes entlang des Nidwaldner Hauptflusses Engelbergera Aa in vollem Gang und verhinderte so einen doppelt so grossen Schaden. Dieses Projekt war eines der ersten, welches nach dem neuen Umgang mit Naturgefahren, dem «Integralen Risikomanagement», umgesetzt wurde. Der Paradigmenwechsel im Umgang mit Naturgefahren in der Schweiz wurde in der Schweiz nach dem grossen Schadenereignis von 1987 entwickelt.
Das Wetterradar vom 18.- bis 23. August 2005
Die Starkniederschläge vom August 2005 waren in Bezug auf Intensität und Ausdehnung im langjährigen Vergleich aussergewöhnlich. Nie vorher wurden so starke Niederschläge gemessen. Auch bei Stationen mit Messreihen, die bis zurück ins 19. Jahrhundert reichen, wurden Rekordwerte verzeichnet.
Lehren aus 1987
So hat denn die Vorbereitung auf die Folgen des Unwetters 2005 genau genommen bereits 1987 seinen Anfang genommen. Aufgeschreckt von den Überschwemmungen in der Urner Reussebene in diesem Jahr, beschloss die Kantonsregierung, die Sicherheit entlang der Engelberger Aa zu prüfen. Die Risikobetrachtung zeigte nämlich, dass ein Ereignis wie es sich 1910 ereignet hatte, nicht mehr nur teuerungsbereinigt 5 Mio. Franken Schaden anrichten würde, sondern rund 100 Mio. Franken. Dieses Schadenrisiko war aufgrund der Ausdehnung der Siedlungen in die Talebene auf das 20-fache angestiegen. Obwohl die Hochwasserschutzmassnahmen von 1910-1940 immer genügt hatten, war eine Verbesserung des Schutzes mit einer überlastbaren Verbauung angezeigt, welche das Restrisiko reduziert.
Die Engelberger Aa fasst die Niederschläge des gesamten Talkessels von Engelberg im Kanton Obwalden, führt durch die Aaschlucht hinunter nach Grafenort, durchquert die Gemeinden Wolfenschiessen, Dallenwil, Oberdorf und Buochs, streift die Gemeinde Stans und gefährdet im Falle eines Überfliessens zusätzlich die Gemeinden Stansstad und Ennetbürgen – das sind sieben von elf Nidwaldner Gemeinden, die im Wirkungsbereich einer entfesselten Engelberger Aa liegen.
«Die neuen Massnahmen haben bewiesen, dass sie bei Hochwasser-Ereignissen wirksam sind.»

Toni Käslin
Feuerwehrinspektor und Führungsstabschef-Stv Kanton Nidwalden
1995 erste Gefahrenkarte
Mit dem Weckruf von 1987 machte sich Nidwalden zum Pionier: Als erstes Gebiet liess der Kanton 1993 seine Topographie mit der damals brandneuen Technik der digitalen Landvermessung zentimetergenau erfassen. Basierend auf diesen Daten und der Befragung von Einheimischen lagen 1995 die Gefahrenkarten für die Engelberger Aa und die angrenzenden Wildbäche vor. Dazu gehörten auch ein Gefahren- und ein Risikokataster, eine für Naturgefahren erweiterte Alarm- und Einsatzplanung mitsamt entsprechender Umgestaltung des Führungsstabes sowie das Umsetzen von raumplanerischen Massnahmen ab 1998. All dies erfolgte gemäss dem Paradigmenwechsel mit der neuen, umfassenden Denkweise des Integralen Risikomanagements, welches das Risiko nicht mehr nur mit Gefahrenabwehrmassnahmen, sondern auch mit Massnahmen auf der Seite der Nutzung begrenzte und reduzierte.
Seit den Unwettern im Jahr 2005 wurde viel erreicht – unter anderem in den Bereichen Monitoring und Frühwarnung, Vorsorge, Risikokommunikation, Bildung und Forschung sowie in der Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Akteuren und den verschiedenen Verwaltungsebenen. Denn: Der Schutz vor Naturgefahren ist eine Gemeinschaftsaufgabe.
Es gilt, Risiken vorausschauend zu begegnen, den Risikoanstieg zu begrenzen, uns an den Klimawandel anzupassen und kontinuierlich daran zu arbeiten, die Sicherheit zu erhalten und – wo nötig – weiter zu verbessern. Mit den verbleibenden Risiken gilt es bewusst und verantwortungsvoll umzugehen.
Prävention lohnt sich, denn sie kann Leben retten. Investitionen sichern die Grundlage für einen sicheren Lebens- und Wirtschaftsraum.
Eine Schwachstelle reicht
Als am 21. und 22. August 2005 die gigantischen Wolkenbrüche über Nidwalden hereinbrachen, überstiegen die Wassermassen zuerst das Fassungsvermögen vieler Zuflüsse zur Engelberger Aa und vieler Böden im Engelbergertal. Der Grundwasserspielgel stieg an mehreren Stellen über den Boden an und bildete Seen. Dann überstiegen sie die Kapazitätsgrenzen der Engelberger Aa. Das Zuviel an Wasser floss kontrolliert über die Landebahnen des Flugplatzes Buochs in den Scheidgraben vor Ennetbürgen und weiter in den Vierwaldstättersee. Der Scheidgraben war jedoch noch nicht wie geplant ausgebaut und das Wasser floss über diesen Abflusskanal hinweg mitten ins Dorf hinein, wo viele Keller geflutet wurden.
«Schutz vor Naturgefahren ist ein dauernder Prozess.»

Nadine Philippi
Leiterin der Abteilung Naturgefahren im Kanton Nidwalden
«Heute ist die Bevölkerung in Nidwalden vor Hochwassern so sicher, wie man derzeit sein kann», sagt Nadine Philippi. Die gelernte Diplomforstingenieurin ist seit einem Jahr Leiterin der Abteilung Naturgefahren des Kantons Nidwalden und hat den Überblick über sämtliche Hochwasser-Schutzprojekte der vergangenen zwei Jahrzehnte. «Schutz vor Naturgefahren ist ein dauernder Prozess, der im Grunde nie aufhört, weil sich sowohl die Natur als auch die Gesellschaft permanent verändern.» Eine Binsenwahrheit für Fachleute, aber sie zeigt eben auch, was entscheidend ist für die Sicherheit der Menschen: Dranbleiben. Und das macht Nidwalden.
Einige in Nidwalden umgesetzte Wildwasser-Schutzprojekte seit 2005:
Der gesamte Scheidgraben wurde aufgeweitet und revitalisiert. Linksufrig wurde ein erhöhter Damm erstellt, der das Dorf Ennetbürgen vor Schäden beim Überlauf der Engelbergeraa bewahrt.
Im Rübibach am Buochserhorn wurde ein Kaskaden-Überlauf-System entwickelt: Der Bach, der bei einem Ereignis kurz aber heftig kommt, überströmt in den in Kaskaden angelegten Rückhalteraum. Reicht die Kaskade nicht, wird das Wasser über die Autobahn grossräumig um das Dorf Buochs herumgeführt – auch das eine völlig neuartige Denk- und Bauweise.
Der Hauptort Stans wurde mit den ins Gelände gelegten Ablaufsystemen Kniri Ost und Kniri West und vielen Einzelmassnahmen sicherer gemacht.
Im Träschlibach in der Gemeinde Beckenried wurden die alten Sperrentreppen ersetzt und mit drei mächtigen Geschiebesammlern ergänzt. Kosten: 33 Millionen Franken. In zwei Jahren sollen die letzten Arbeiten ausgeführt sein.
In Hergiswil trotzen drei mächtige Geschiebesammler der rohen Gewalt des Steinibachs.


Schutz geht vor
Aktuell ist die Umsetzung des Hochwasser-Schutzprojektes Buoholzbach zwischen Oberdorf und Wolfenschiessen in Gang. Nadine Philippi: «Es war eine harte Knacknuss, alle Interessen vom Gewerbe und den Anwohnenden über den Naturschutz und den Forst bis hin zum Eisenbahn- und Autoverkehr unter einen Hut zu bringen. Aber es hat geklappt.» Am 11. November 2024 war Spatenstich, Ende 2027 soll die Schutzwirkung erreicht und ein Jahr später das Projekt abgeschlossen sein. Kostenpunkt: 46 Millionen Franken.
Interessantes «Detail» am Rande: Weil ein neuerliches Überlaufen des Buoholzbaches auch den Talboden nach Stans und bis nach Stansstad betreffen könnte, sind in dieser Gefahrenzone seit Jahren Bauprojekte sistiert. Ab 2028, wenn das Hochwasser-Schutzprojekt Buoholzbach abgeschlossen ist, ist deshalb im Nidwaldner Hauptort rege Bautätigkeit zu erwarten.


Digitale Unterstützung
Obwohl der Krisenstab beim Ereignis 2005 vorbildlich funktioniert hat, wurde auch die Alarm- und Notfallorganisation im Kanton Nidwalden verbessert und neuen Umständen angepasst, sowohl technisch als auch organisatorisch und personell. Hier hat Toni Käslin den Überblick. Er ist heute Feuerwehrinspektor bei der Nidwaldner Sachversicherung sowie stellvertretender Stabschef des Führungsstabs und stand 2005 als Feuerwehrkommandant im Einsatz. «Die Notfall-Organisation in Nidwalden war 2005 sehr gut vorbereitet, Optimierungen haben wir inzwischen alle umgesetzt», erzählt er. «Und vieles ist auch neu hinzugekommen.» Besonders freut ihn, dass auch der Bund in den letzten Jahren «super vorwärts gemacht hat» mit der Entwicklung von digitalen Einsatz- und Planungs-Tools. «Heute können wir mit Handy-Apps Informationen in einer Präzision holen, wie es noch vor kurzem kaum vorstellbar war. Davon profitiert die ganze Schweiz.»


Massnahmen bewähren sich
Wie sicher sind die Nidwaldnerinnen und Nidwaldner, ihr Hab und Gut, die Infrastruktur und die Kulturlandschaften vor Hochwasser? Toni Käslin zieht ein Fazit aus seiner Erfahrung: «Seit dem Ereignis 2005 hat das Überlaufsystem der Engelberger Aa vor Buochs zwei weitere Male angesprochen und es gab lediglich leicht zu behebende Flurschäden auf dem Landeareal des Flugplatzes. Fünf Mal kam es zu brenzligen Hochwasser-Situationen in Bächen, bei denen es ohne die bestehenden Verbauungen ziemlich sicher zu Katastrophen gekommen wäre.» Also ja, lautet sein Fazit, die Sicherheit der Bevölkerung ist optimal.
Die Sache mit der Erinnerung
Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet Nadine Philippi das Sicherheitsempfinden der Menschen in Nidwalden: «Dass das Interesse an Schutzmassnahmen nachlässt, je weiter ernsthafte Ereignisse zurückliegen, ist ja allgemein bekannt. Mir ist es aber schon passiert, dass ich ein Baugesuch auf Naturgefahren prüfen musste, und die künftige Bauherrschaft aufrichtig der Meinung war, dass auf ihrer Liegenschaft noch nie etwas passiert sei. Anhand der Ereignisdokumentation konnte ich dann aber nachweisen, dass exakt dieses Haus beim Hochwasser 2005 den Keller voll Schlammwasser hatte. Daran konnte sich bloss niemand mehr erinnern.» Das Sicherheitsgefühl scheint gross, das Bewusstsein für Naturgefahren dagegen klein. Eine Herausforderung für die Bevölkerung und die Behörden. Es bleibt ein ewiger Prozess.