Man kann es sich gut vorstellen: Der zweijährige Paul rennt begeistert draussen im Garten herum, buddelt im Boden und erforscht, was die Jahreszeit grad hergibt. Die frische Luft, die Bewegung, und dass auch mal etwas Dreck in Pauls Mund landet – das ist gut für das Immunsystem und gegen Allergien. Doch was weder Paul noch seine Eltern sehen: Der Boden des Gartens ist mit Schadstoffen belastet. Früher wehten aus den Kaminen der alten Metallfabrik mitten im Dorf Staubpartikel auf diese Grundstücke hinüber. So haben sich im Boden über Jahrzehnte Schadstoffe angesammelt, die heute Grenzwerte überschreiten und in Pauls Körper gelangen.
Der kleine Paul ist zwar fiktiv, aber er steht für viele Kleinkinder, die in der Schweiz auf belasteten Böden spielen, etwa in Reconvilier. Im bernjurassischen Dorf in der Nähe von Biel, eine Hügelkette von der Stadt getrennt, hat der Kanton Bern 2019 Bodenproben genommen und festgestellt, dass an verschiedenen Orten Sanierungsgrenzwerte von Metallen wie Kupfer und Zink überschritten sind – auch in Gärten von Familien.
Für belastete Böden, auf denen Kinder regelmässig spielen –, wie Privatgärten oder Spielplätze – gelten strengere Schadstoffgrenzwerte als für Standorte mit landwirtschaftlicher oder gartenbaulicher Nutzung. Der Bund rechnet damit, dass Kinder zwischen einem und drei Jahren täglich ein Viertel Gramm Erde verschlucken. Vom häufig anzutreffenden Blei zum Beispiel ist bekannt, dass es die Hirnentwicklung schädigt.
Ist die Quelle klar, muss der Boden weg
Ursprung der Schadstoffe in Reconvilier waren die Boillat-Werke, jahrzehntelang ein Industrieflaggschiff des Jurabogens. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts verarbeiteten die Giessereien Buntmetalle wie Kupfer oder Zink. Der Bedarf danach war gross, zur Herstellung von Uhren, Stromkabeln, Telefondraht und Munition. Nur: Aus den Kaminen gelangten Partikel ungefiltert in die Luft und von da in den Boden. Bis 1985 die Luftreinhalteverordnung vorschrieb, dass Fabriken ihre Kamine mit Filtern ausrüsten müssen.
Seit 2022 nun brummen im 2400-Seelen-Dorf Reconvilier und im Nachbardorf Loveresse die Bagger. Sie tragen auf den betroffenen Parzellen die obersten 20 Zentimeter Boden ab. «Die Gemeinden und die Menschen hier haben uns positiv aufgenommen», sagt Nicole Chollet Häusler, Co-Leiterin des Fachbereichs Altlasten beim Amt für Wasser und Abfall des Kantons Bern. «Zwar haben einige ältere Leute gesagt, dass sie das Gemüse aus ihrem Garten seit mehr als 20 Jahren essen und nicht krank geworden sind. Aber Familien mit kleinen Kindern sind sehr froh, wenn wir ihren Garten sanieren.»Der belastete Boden wird auf einer dafür geeigneten Deponie, wo das Sickerwasser gefasst und behandelt wird, endgelagert. Die Gärten in Reconvilier werden mit sauberem Boden wiederhergestellt und danach in Absprache mit den Besitzerinnen und Besitzern gestaltet.
Diese Massnahmen bezahlen ganz nach dem Verursacherprinzip üblicherweise der Standortinhaber und zu einem grösseren Teil der Verschmutzer, oder, falls dieser nicht mehr existiert, der Kanton. So auch in Reconvilier. Zwar ist der Verursacher der Belastung bekannt, doch die Nachfolgewerke von Boillat sind nicht Rechtsnachfolger und darum von der Zahlungspflicht befreit. Und weil die Grundstücksbesitzer von der Verschmutzung nichts wissen konnten, müssen auch sie nichts zahlen. So trägt der Kanton Bern die rund drei Millionen Franken für die Untersuchungen und die Sanierung, unterstützt vom Altlasten-Fonds des Bundes, der 40 Prozent der Kosten des Kantons übernimmt.
Ist die Quelle unklar, wird die Nutzung verboten
Anders ist es bei einer diffusen Belastung des Bodens ohne bestimmte Quelle, also durch die allgemeine Luftverschmutzung oder die Abgase einer öffentlichen Strasse. Ist in einem solchen Fall der Grenzwert eines Schadstoffs in einem Garten oder auf einem Spielplatz überschritten, kann der Kanton nur die Nutzung des Areals verbieten, eine Sanierung kann er nicht verlangen. «So wird je nach Quelle bei gleicher Belastung der eine Spielplatz oder Garten saniert, dagegen beim anderen nur die Nutzung verboten», sagt Rolf Kettler, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Sektion Altlasten des BAFU. «Diese Ungleichbehandlung hat keinen Sinn. Will man den Spielplatz aufrechterhalten, sollte man ihn sanieren, denn kaum jemand will seine Kinder auf einem belasteten Kinderspielplatzboden spielen lassen.»
Im Dezember 2022 hat der Bundesrat dem Parlament darum einen Vorschlag zur Revision des Umweltschutzgesetzes USG gemacht. Wenn auf Kinderspielplätzen die Sanierungswerte überschritten sind, soll neu das Altlastenrecht zur Anwendung kommen, unabhängig von der Herkunft der Belastung. «So soll in Zukunft klar sein, dass ab einem bestimmten Wert eine Sanierung angezeigt ist. Zudem erhalten neu auch die Eigentümer einen Beitrag aus dem Altlasten-Fonds an die Sanierungskosten», sagt Kettler. Die Revision des USG steht nun zur Beratung im Parlament an.
Dass belastete Böden von Kinderspielplätzen und Privatgärten jetzt als Thema aufgekommen sind, hat zwei Gründe. Zum einen musste das Walliser Chemieunternehmen Lonza in den vergangenen Jahren in Raron und Visp viele Gärten und Spielplätze sanieren, weil der Quecksilber-Grenzwert überschritten war. Über mehrere Jahrzehnte hatte das Unternehmen quecksilberhaltiges Abwasser ungereinigt in den Grossgrundkanal geleitet. Dessen Sedimente wurden im Sinne der Bodenverbesserung in Gärten ausgebracht, ohne dass man von der Verschmutzung wusste. Der Fall erhielt viel mediale Aufmerksamkeit.
Zum anderen hat das BAFU nach 25 Jahren Altlastenrecht alle Schadstoffgrenzwerte neu überprüfen und beurteilen lassen, um allfällige neue Erkenntnisse zur Giftigkeit der Stoffe miteinzubeziehen. Und tatsächlich: Das mit der Überprüfung beauftragte Schweizerische Zentrum für Angewandte Humantoxikologie SCAHT kam zum Schluss, dass zum Beispiel bei Blei der heutige Grenzwert zu hoch ist. Dieser liegt aktuell bei tausend Milligramm pro Kilogramm Erde. Blei ist ein starkes Nervengift, das selbst in geringen Mengen Gehirn und Nervensystem von Kindern irreversibel schädigt. Es kann zu verminderter Intelligenz und Lernproblemen führen. Darum will das BAFU den Grenzwert auf 300 Milligramm pro Kilogramm Erde senken.
Pilotprojekt in der Waadt
Eine weitere Stadt mit vielen belasteten Gärten ist Lausanne. 2021 wurde dort die wohl grösste Dioxinverschmutzung des Landes entdeckt. Ursache war die alte Kehrichtverbrennungsanlage. Nun prüft der Kanton bei mehreren tausend Parzellen, ob saniert werden muss. Falls es dazu kommt, stellt sich allerdings die Frage, ob es genug Deponien gibt für so viel belasteten Boden und genug sauberen Boden für so viel Fläche. In Pilotprojekten versucht der Kanton Waadt darum, den Boden vor Ort zu säubern.
Die Bodensanierungen in Reconvilier werden noch bis 2026 andauern. Derweil fragt sich Nicole Chollet Häusler vom Fachbereich Altlasten beim Kanton Bern, ob uns Menschen bewusst ist, auf welch kostbarem und rarem Gut wir uns bewegen. «Wir haben für Reconvilier noch genügend sauberen Boden gefunden», sagt sie, «aber was, wenn es keinen mehr gibt?»