Das Jahrhunderthochwasser im August 2005 war eine Wende für Matthias Oplatka. Obwohl seine Heimatstadt Zürich knapp einer Katastrophe entgangen ist, hat es den Sektionsleiter Wasserbau des Kantons Zürich wachgerüttelt. Nur ein paar handbreit Wasser haben gefehlt und die Sihl hätte Teile der Innenstadt und den Hauptbahnhof geflutet, zigtausende Personen hätten evakuiert werden müssen, Chaos hätte gedroht – sowie ein riesiger finanzieller Schaden.

Die Wahrscheinlichkeit von Schäden beurteilen
Für den heute 61-Jährigen Wasserbauspezialisten Oplatka war damals klar: «Wir müssen weg von der gefährdungsgetriebenen hin zur risikogetriebenen Planung von Massnahmen.» Bis 2005 hatte der Kanton jeweils vorwiegend auf Überschwemmungen reagiert. Dann begann ein Umdenken. Nicht mehr nur die Gefährdung, also das Hochwasser, floss in die Betrachtung ein, sondern vor allem auch, wie gross das Risiko der Wahrscheinlichkeit von Schäden und somit das Risiko ist. Dank der damals neu erarbeiteten Gefahrenkarten sollen grössere Schäden nun präventiv verhindert werden.

Nach dem Hochwasser 2005 hat Oplatka mit Meteorologinnen und Wissenschaftlern Wetterdaten aus den schwer getroffenen Regionen über das Einzugsgebiet der Sihl gelegt. Mit dem Resultat: Von 16 möglichen Szenarien hätten 15 Zürich unter Wasser gesetzt.

Der Kanton schätzt, dass ein Extremhochwasser der Sihl allein in der Stadt Zürich zu Schäden von fast sieben Milliarden Franken führen könnte. Dazu kämen volkswirtschaftliche Kosten: Die Verkehrsinfrastruktur wäre lahmgelegt, Menschen könnten nicht arbeiten gehen, und Schäden an der Energieversorgung würden Folgekosten mit sich ziehen. Der Kanton schätzt sie um bis zu einem Faktor sieben höher als die eigentlichen Mobiliarschäden ein.

Die Lösung: ein Entlastungsstollen
Die Analyse der Hochwasserereignisse ergab, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Deshalb initiierte der Kanton Zürich in enger Zusammenarbeit mit den betroffenen Partnern rasch kurz- und mittelfristige Massnahmen.

Herzstück des zukünftigen Hochwasserschutzes der Stadt Zürich ist der Entlastungsstollen Sihl-Zürichsee. Seit 2022 wird gebaut, im nächsten Jahr soll eröffnet werden.

Das Prinzip ist einfach: Führt die Sihl bei Langnau am Albis zu viel Wasser, schwappt dieses über eine Überlaufkante in den Stollen und fliesst in einem Tunnel durch den Zimmerberg in den Zürichsee. Viel wird davon nicht zu sehen sein, ausser einer langen Betonwand beim Eintritt in den Stollen, die mit der Zeit Moos ansetzt.

Die Sihl bleibt ein Wildfluss…
Das System dahinter ist komplizierter. Um die Menge des Wassers, das in den Stollen strömt, zu regulieren, ist die Überlaufkante beweglich. Sie besteht aus luftgefüllten Schlauchwehren, deren Höhe sich durch Ablassen oder Einpumpen von Luft anpassen lässt. Führt die Sihl extremes Hochwasser, muss mehr davon in den Stollen abgelassen werden als bei normalem Hochwasser.

Um das Bauwerk zu testen, hat es die Versuchsanstalt für Wasserbau der ETH Zürich in einem Modell nachgebaut. «Was den GewässerbauWasserbau so spannend macht», sagt Matthias Oplatka, «ist, dass es kaum Normen gibt.»

Die Überlaufkante ist so eingestellt, dass die Sihl noch immer Hochwasser führen kann. «Ein gesundes Gewässer braucht das», sagt Oplatka. Werden Bäume ausgerissen, entsteht Platz für neue, Fische brauchen neue Kiesbänke, um zu laichen, die Flusssohle muss aufgewirbelt werden, um das Grundwasser aufzufüllen. Eine Gruppe aus der Bevölkerung, die das Projekt partizipativ begleitet hat, diskutierte die Zukunft der Sihl im städtischen Raum und kam zum Schluss: «Die Sihl ist ein Wildfluss und soll es bleiben.»

…und auch Amphibien werden gerettet
Ein Bauprojekt dieser Grösse verpflichtet sowohl zu ökologischen Ersatzmassnahmen wie auch zu einer Umweltbaubegleitung. Bei ersterer wird verlorener Naturraum an einem anderen Ort zurückgewonnen. Unterhalb des Bahnhofs Langnau-Gattikon wird die Sihl für Tiere und Pflanzen attraktiv gestaltet, und in Richterswil wird das Zürichseeufer aufgewertet.

Ingenieurinnen und Biologen schauen bei den Bauarbeiten, dass diese möglichst umweltschonend durchgeführt werden. Lucia Muther, Abteilungsleiterin Umwelt im Ingenieurbüro B+S AG, begleitet den Sihl-Entlastungsstollen: «Es hört sich nach Polizistin an, die über die Baustelle geht und alles kontrolliert. Wir sehen uns aber eher als Beraterinnen und Helfer.»

Weitere Projekte für den Hochwasserschutz Zürichs

Muther unterstützt beispielsweise die Kontrolle des Aushubmaterials, das nicht mit Spritzbeton verunreinigt sein darf. Falls nötig wird das Baustellenabwasser in zwei riesigen, provisorischen Reinigungsanlagen gesäubert, bevor es in die kommunale Kläranlage, die Sihl oder den Zürichsee geleitet wird.

«Es gibt auch ungewöhnliche Momente», sagt die Umweltingenieurin: Vor der Baustelle gab es kleine Tümpel mit Gelbbauchunken, die sie umgesiedelt haben. Während des Bauens kamen die Amphibien zurück. «Also haben wir sie in Kesseln hinübergetragen und einen Amphibienzaun aufgestellt.»

Die Umweltbaubegleitung ist die erste vor Ort und die letzte, die geht. Sie ist es, die auch die Rekultivierung der Baustelle überprüft. «Wenn man nach einer riesigen, lauten Baustelle wieder Vögel zwitschern hört, ist das einfach schön», sagt Lucia Muther. Seit zwanzig Jahren macht sie diesen Job und hat miterlebt, wie er von einem belächelten Geld- und Zeitfresser zu einer Stabstelle geworden ist, die dazugehört.

©Keystone/Michael Buholzer

©Keystone/Michael Buholzer

Limmatstadt? Sihlstadt!
«Die Sihl ist spannender als die Limmat», findet Matthias Oplatka. Zürich wird oft Limmatstadt genannt, wurde aber von der wilden Sihl geprägt. Ein Grossteil, darunter Hauptbahnhof, Tonhalle und Fraumünster, liegt auf Schotter, den die Sihl antransportiert hat. Sie hat die Limmat an den rechten Talrand gedrängt.

Ist Zürich mit einer beruhigten Sihl nun sicher? «Mit dem Entlastungsstollen machen wir einen Riesensprung», sagt Matthias Oplatka. «Was bleibt, ist das Risiko durch den Oberflächenabfluss bei Starkregenfällen.» Versiegelte Flächen, gesättigter Boden und eine überforderte Kanalisation nehmen irgendwann kein Wasser mehr auf. Laut dem Leiter der Sektion Wasserbau macht das etwa die Hälfte der Hochwasserschäden aus.