Bei minus 50 Grad Celsius ist jeder Atemzug nahe an der Schmerzgrenze. Selbst in der dicken Daunenjacke mit Kapuze und Thermohosen ist es hier drin, im Extrem-Kühlraum im Untergeschoss eines Gebäudes der Universität Bern, viel zu kalt, um sich länger darin aufzuhalten. Für Menschen ist der Ort nicht gemacht – dafür ist er genau richtig für den Schatz, der hier lagert: Uralte Eiskern-Proben aus der Antarktis.

Die Proben sind einzigartig, denn sie sind bis zu sagenhafte 1,2 Millionen Jahre alt – älter als jeder andere Eiskern, der jemals geborgen und untersucht wurde. Solch uraltes Eis findet man nur in extremer Tiefe. Es stammt aus dem antarktischen Eisschild und wurde im Projekt namens «Beyond EPICA» von Mitarbeitenden von zwölf Forschungsinstituten aus zehn europäischen Ländern aus 2500 Metern Tiefe herausgebohrt. In diesen Bohrkernen ist die Klimageschichte der Erde gespeichert.

Kostbares Wissen in Eis
Das Eis formte sich einst aus dem Niederschlag und schloss dabei Luft aus der Vergangenheit ein. So enthält es Informationen über das Klima und die Erdatmosphäre und darüber, wie sich die Bedingungen im Lauf der Zeit verändert haben. Beispielsweise lassen sich in den Proben die Mengen der wichtigsten Treibhausgase vermessen, also CO2, Methan und Lachgas, wie Hubertus Fischer erklärt. Er ist Professor und Abteilungsleiter für Klima und Umweltphysik an der Universität Bern und einer der Leiter des «Beyond EPICA»-Projekts. Andere Eiskern-Messungen liefern Hinweise darauf, wie viel Biomasse es damals auf der Erde gab oder wie warm die Ozeane waren. Eine unfassbar kostbare Quelle an Wissen. 

Erkenntnisse zur Klimaerwärmung
Damit sich die Proben chemisch nicht verändern, werden sie stets auf minus 50 Grad gehalten. Der Kontrast zur Aussentemperatur könnte gerade heute nicht grösser sein: Es ist ein Tag Mitte August und 35 Grad heiss – schon die zweite Hitzeperiode des Sommers. Dass die Hitzeperioden der letzten Jahre mit der Klimaerwärmung zu tun haben, weiss man ebenfalls von Analysen von Eisbohrkernen. Die Treibhausgase in der Atmosphäre werden erst seit den späten 1950er-Jahren, also in der nachindustriellen Zeit, gemessen. «Das volle Ausmass des menschgemachten Treibhausgas-Anstiegs und den Zusammenhang zur Temperatur kennen wir darum nur von der Analyse von Eisbohrkernen», sagt Fischer. 

Folgen der Kipp-Punkte
Auch die Auswirkungen der sogenannten klimatischen «Tipping Points» haben Forschende als erstes in solchen Eisbohrkernen entdeckt. Erreichen wir diese Kipppunkte im Erdsystem, sind die klimatischen Veränderung drastisch und unwiderruflich. Zu diesen Kipppunkten zählen Klimaforschende unter anderem das Abschmelzen der Eisschilde am Nord- und Südpol, das Auftauen der Permafrostböden oder den Zusammenbruch des Nordatlantikstroms. Das ist jene grosse Meeresströmung, die für das gemässigte europäische Klima sorgt. Was passiert, wenn diese Strömung abbricht und dann wieder anspringt, dokumentierten Eisbohrkerne aus Grönland – genauer, Abschnitte aus der letzten Eiszeit. Während dieser Eiszeit gab es sehr kalte eiszeitliche Phasen, die aber immer wieder von schnellen Erwärmungen unterbrochen wurden. Noch sind nicht alle Einzelheiten abschliessend geklärt, aber erwiesen ist durch die Eiskerne: In der Eiszeit war der Nordatlantikstrom verringert, aber jedes Mal wenn dieser wieder vorrübergehend ansprang, wurde es in Grönland gleichzeitig um 10 bis 15 Grad Celsius wärmer – und zwar innerhalb von nur 100 Jahren. «Wenn das heute passieren würde mit über acht Milliarden Menschen auf der Erde, wären die Folgen katastrophal», sagt Fischer. 

In dieser Eiskaverne werden die Ein-Meter-Eisstäbe in Styroporkisten geschichtet und aufbewahrt. ©PNRA IPEV

In dieser Eiskaverne werden die Ein-Meter-Eisstäbe in Styroporkisten geschichtet und aufbewahrt. ©PNRA IPEV

Zusammenhang von Eiszeiten und CO2
Der Forscher will mithilfe des uralten Eises, das im Berner Kühlraum lagert, nun ein weiteres Rätsel der Klimageschichte lösen, nämlich den Übergang des mittleren Pleistozäns, einem Zeitraum 900 000 bis 1,2 Millionen Jahre vor unserer Zeit. Damals gab es eine bemerkenswerte Verschiebung: Zuvor wechselten sich Eis- und Warmzeiten ungefähr alle 40 000 Jahre ab. Danach aber wurden die Eiszeiten ausgeprägter und die Warmzeiten seltener, sie kamen nur noch alle 100 000 Jahre. «Unsere Hypothese ist, dass dies mit der CO2-Konzentration in der Atmosphäre zu tun hat», sagt Fischer. Möglicherweise war sie vor 1,2 Millionen Jahren in den Eiszeiten etwas höher als in späteren Eiszeiten, was so starke und lange Vereisungen, wie sie danach kamen – von vor 900'000 Jahren bis heute – verhindert hat. Diese Hypothese wollen die Forschenden nun prüfen. 

Suche nach der sauberen Schichtung
Die Vorbereitungen dafür begannen vor über zehn Jahren, denn zunächst mussten die Forschenden herausfinden, wo sich derart altes Eis überhaupt finden könnte. Aufgrund von Vorwissen und Computermodellierungen ermittelten sie vielversprechende Bohrstellen und erkundeten diese in einem dreijährigen Vorprojekt mittels Radaruntersuchungen. Am abgelegenen Standort Little Dome C auf dem zentralantarktischen Plateau wurden sie fündig: «Dort war das Eis auch in grossen Tiefen noch sauber geschichtet, sodass wir eine kontinuierliche Zeitachse erwarten konnten», erklärt Fischer. 

Im Gefriercontainer geht’s auf den Eisbrecher Laura Bassi, … ©PNRA IPEV
Im Gefriercontainer geht’s auf den Eisbrecher Laura Bassi, … ©PNRA IPEV
der die Proben über den Atlantik und nach Europa brachte. © PNRA IPEV
der die Proben über den Atlantik und nach Europa brachte. © PNRA IPEV

Klirrende Kälte
Ab November 2019 bauten die Forschenden das Camp auf, konnten aber erst nach der Corona-Pandemie mit den aufwendigen Bohrungen anfangen. Arbeiten konnten sie jeweils nur in den Sommermonaten, also von Mitte November bis Ende Januar. Dann liegen die Temperaturen auf einer Höhe von 3200 Metern durchschnittlich bei minus 35 Grad Celsius – gerade noch warm genug, um im Feld zu arbeiten. Vier Bohrsaisons benötigte das Team, um auf die Tiefe von 2500 Metern hinabzukommen. 

Neue Methoden gefordert
Um die Proben vermessen zu können, musste Fischers Forschungsgruppe sich zunächst etwas einfallen lassen. Denn die Schichten im arktischen Eisschild werden mit zunehmender Tiefe immer dünner. «Das heisst, dass wir für die Messungen immer weniger Eis zur Verfügung haben, je älter es ist», erklärt Fischer. So sind im 1,2 Millionen Jahre alten Eis rund 13 000 Jahre in einem einzigen Meter Eis komprimiert. Darum hat Fischer bereits vor zehn Jahren angefangen, eine Methode zu entwickeln, mit der sich an wenig Eismaterial mehrere Treibhausgase gleichzeitig messen lassen.

Proben im Minus-50-Grad-Kühlraum an der Universität Bern, bereit für die Messungen. Sämtliche Proben sind farbcodiert beschriftet, um Fehlerquellen zu minimieren. Für die Treibhausgas-Messungen werden jeweils Eiskuben von zehn Zentimetern Länge benötigt. ©Santina Russo

Proben im Minus-50-Grad-Kühlraum an der Universität Bern, bereit für die Messungen. Sämtliche Proben sind farbcodiert beschriftet, um Fehlerquellen zu minimieren. Für die Treibhausgas-Messungen werden jeweils Eiskuben von zehn Zentimetern Länge benötigt. ©Santina Russo

Mit Infrarot und Laser
Das Gerät dafür hat Fischers Team selbst gebaut. Darin wird ein kleiner Eiskubus im Vakuum von oben mit Infrarotlicht bestrahlt. So kommt das Eis direkt von seiner festen Form in die Gasphase. «Das ist wichtig», sagt Fischer, «denn wenn sich flüssiges Wasser bilden würde, gäbe es chemische Reaktionen und die CO2-Konzentration würde verfälscht.» Die freigesetzten Gase werden getrennt gesammelt und in einem Laserspektrometer vermessen, das ebenfalls eigens dafür von Fischers Team und von Kollegen an der Empa entwickelt wurde. 

Schritte von nur einigen hundert Jahren
Auf diese Weise können die Forschenden mit einer Probe von 15 Gramm Eis die Mengen aller wichtigen Treibhausgase mit hoher Genauigkeit bestimmen. Zudem misst Fischers Team die isotopische Zusammensetzung des im Eis gespeicherten CO2, was Informationen über den Kohlenstoffkreislauf liefert. Oder sie analysieren die Menge der Edelgase. Von diesen lässt sich auf die Temperatur der Ozeane rückschliessen. Andere Forschungsteams des «Beyond EPICA»-Projekts kümmern sich um die genaue Datierung des Eises oder messen die isotopische Zusammensetzung des Sauerstoffs, was Hinweise zur biologischen Aktivität liefert. 

Mithilfe all dieser Verfahren können die Forschenden detailliert nachverfolgen, wie sich die Atmosphäre und die klimatischen Bedingungen auf der Erde verändert haben. In einem ersten Schritt werden sie die Messungen alle 4000 bis 5000 Jahre auf der Zeitachse des Eises durchführen. «Damit sollten wir im Frühling 2026 fertig sein», sagt Fischer. In einem zweiten Schritt wird das Team die Proben dann Zentimeter für Zentimeter vermessen. «Das wird noch einige Zeit dauern, aber so kommen wir dann auf eine Auflösung von nur einigen hundert Jahren.»

Hubertus Fischer bei der Feldarbeit. Er erlitt auch schon Erfrierungen an der Hand, die aber wieder ausgeheilt sind. DR

Hubertus Fischer

ist Professor für Experimentelle Klimaphysik und Leiter der Abteilung Klima und Umweltphysik der Universität Bern. Er ist Spezialist für die Analyse von Eisbohrkernen und hat dafür verschiedene neue Methoden entwickelt. Zu dieser Forschungsdisziplin kam er ursprünglich durch Zufall. Nach dem Abschluss seines Physikstudiums an der Universität Heidelberg fragte ihn sein späterer Doktorvater: «Fährst du Ski, kannst du kochen? Ich hätte da vielleicht was für dich in Grönland.» Fischer musste nicht lange überlegen und fand sich schon bald in den eisigen Weiten Nordgrönlands wieder. Inzwischen war er schon viele Male auf Expedition in Grönland und in der Antarktis.