Wann sind Sie das letzte Mal bewusst in die Natur gegangen? Nicht, um den Hund auszuführen oder Ihre 10 000 Schritte abzuspulen. Sondern nur, um die Natur wahrzunehmen: dem Rauschen des Baches lauschen, den sanften Wind auf der Haut spüren oder das weiche Moos auf Baumstämmen ertasten. Kurz, um sich aktiv und bewusst zu erholen. Die Ruhe der Natur entspannt Körper und Geist. Sie nimmt positiven Einfluss auf unser Wohlbefinden, ohne dass wir danach fragen oder verlangen. Und sie macht uns bewiesenermassen empathischer – ein Wesenszug, der in der heutigen Zeit manchmal etwas abhandengekommen zu sein scheint. Menschen brauchen ruhige Naturerlebnisse und Landschaften als Ausgleich und Energiequelle.
Deshalb hat die Stiftung SL Landschaftsschutz Schweiz mit Forschenden der ETH Zürich die Karte der «Landschaften der Ruhe und Tranquilität» erarbeitet. Gemeinsam haben sie 53 Gebiete im Schweizer Mittelland identifiziert, welche sich durch ihre Ruhe und dadurch ihren hohen Erholungswert auszeichnen. Daniel Arn aus der Sektion Landschaftspolitik des BAFU begrüsst dieses innovative Projekt sehr: «Die Gemeinden und Kantone haben mit der Karte eine gute Grundlage, um die kontemplative, sanfte Erholung zu fördern.» Die Gebiete könnten planerisch vor Störungen durch Bauten und Verkehrsachsen bewahrt werden. Weiter könnten Angebote für eine landschaftsbezogene Regionalentwicklung darauf aufbauen, wie sie die neue Publikation des BAFU und des SECO «Den Qualitäten und Werten von Landschaften auf der Spur» anregt. Die «Tranquility Map» ist online verfügbar.
Von der Natur in den Bann gezogen
Eines dieser grössten Gebiete befindet sich im Zürcher Oberland. Der 25 Kilometer lange Guyer-Zeller-Weg verbindet das Neuthal sternförmig mit Bauma, Wila und Pfäffikon (ZH). Serpentinenmässig schlängelt er sich durch urchige Wälder in teils sehr steiles Gelände mit überhängenden Felswänden. Hier wachsen Wurzeln in den Weg, dort führt er um einen moosbewachsenen Stein, vorbei an einem Wasserfall.
Um grosse Geländehindernisse zu überwinden, liess der Erbauer Adolf Guyer-Zeller Dutzende Brücken und Treppen anlegen. Er war ein Naturfreund und liess den Weg zwischen 1889 und 1899 gleich hinter seiner Spinnerei in Bäretswil anlegen im bis anhin unberührten, verwunschenen Tobel des Wissenbachs. «Adolf Guyer-Zeller wirkte nicht nur beruflich als Pionier», sagt Raimund Rodewald, Geschäftsleiter der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz. «Er gründete den ersten SAC-Club im Zürcher Oberland und verbreitete mit seinem regionalen Wegnetz die Kultur des Spazierens in der Schweizer Bevölkerung.» Dieses Erholungsangebot war bis anhin nur in grösseren alpinen Tourismusregionen zu finden.
Raimund Rodewald
Leiter der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz
Adolf Guyer-Zeller war der Zeit voraus. Durch die unmittelbare Nähe zu seiner Fabrik löste der Weg die strikte Trennung zwischen Arbeit und Musse auf. Er erschloss eine Landschaft in nächster Nähe, die alle Kriterien der heutigen Gesundheitsforschung in Bezug auf Erholung präsentiert. Auf dem Weg sind verschiedene positive Effekte weitgehend unberührter Natur fühlbar. Er verfügt über hohe akustische und visuelle Ruhequalitäten. Kaum betritt man den Weg und begibt sich in den Wald, hat man das Gefühl, weit weg vom Alltag zu sein – nichts mehr tun zu müssen. Da die Umgebung ästhetisch ansprechend, vielschichtig und ohne klaren Fokus ist, setzt der Effekt der Entspannung augenblicklich ein.
«Zur Beruhigung führt auch der Kontrast von fliessendem Wasser und stehenden Bäumen. Das Waldbild erzeugt das Gefühl von stehen gebliebener Zeit», sagt Raimund Rodewald. Er rät Ruhesuchenden, auf Spaziergängen den Raum, die Landschaft bewusst auf sich wirken zu lassen. Beim Überqueren einer kleinen Brücke macht er auf ein akustisches Erlebnis aufmerksam: «Hier befinden wir uns in einem Hot Spot der Wahrnehmung.» Während auf der einen Seite der Wissenbach sprudelnd in Richtung Tal mäandert, tropft entlang der Felswand ein feines Rinnsal gen Waldboden: Das rechte Ohr hört etwas anderes als das linke.
Positive Ehrfurcht in der Natur
Das Kleinod im Zürcher Oberland verfügt über ein weiteres wichtiges Merkmal, welches Landschaften mit einem hohen Erholungseffekt auszeichnet: den sogenannten Mystery-Effekt, bei dem die Landschaft sich von Tag zu Tag verändert. Der Wissenbach findet je nach Wassermenge neue Wege ins Tal. Bäume stürzen in die feuchte Schlucht oder werden von Käfern und Pilzen zersetzt. Je nach Lichteinfall und Windstärke kann das Tobel freundlich und kühlend oder dunkel und bedrohlich wirken. Was gestern war, ist heute nicht mehr.
Die dortige Natur nimmt Besuchende mit ihrer Eigendynamik und Lebendigkeit gefangen, sie schafft eine Resonanz. «Hier steht die Wahrnehmung der Landschaft im Vordergrund, nicht das ständige Aktivsein», sagt Raimund Rodewald. «Es gibt keine Attraktionen.» Er schreibt dem Guyer-Zeller-Weg eine assoziative Wirkung zu, welche nicht nur die Eigenwahrnehmung schärft: «Jede Person, die den Weg begeht, nimmt im Unterbewusstsein etwas mit in Form von Empathie, Ehrfurcht und Kraft.»
Die Ehrfurcht, die man in der Natur erleben kann, verringert die Überzeugung über die eigenen ideologischen Einstellungen. Sie kann dazu führen, dass sich Menschen mehr für das Allgemeinwohl engagieren, grosszügiger für wohltätige Zwecke spenden oder bewusst ihre negativen Auswirkungen auf die Umwelt verringern. Solche Effekte lassen jedoch nach einiger Zeit nach. Deswegen ist es wichtig, dass erholsame und ruhige Plätze auch in unmittelbarer Umgebung von Wohn- und Arbeitsorten vorkommen – wie der Guyer-Zeller-Weg.
Den richtigen Klangraum gestalten
Insbesondere in städtischen Gebieten beeinflussen Geräusche das Wohlbefinden, auch wenn unbewusst. Eine ganzheitliche Gestaltung von urbanen Freiräumen soll die akustischen Aspekte von Anfang an mitplanen. Die Plattform «Klangraumarchitektur» präsentiert Grundlagen, Anregungen und Beispiele dazu – unter Klangraum wird ein Aussenraum mit all seinen Geräuschen und Klängen verstanden. Zu den Kriterien für eine erholsame Klangqualität zählen neben der Ruhe die Geräuschvielfalt, die Kommunikationsfreundlichkeit sowie eine gewisse Erkennbarkeit des akustischen Raums.
In einem Park hilft eine naturnahe Umgebung im Innern mit Laubbäumen, Gebüschen sowie entsiegelten Böden und Wegen. Die Vegetation soll auch Lebensraum für verschiedene Vögel sein. Klänge von Brunnen, Wasserspielen oder renaturierten Bächen versprechen Abkühlung. Die Strukturierung in Geländekammern oder Hecken und Mäuerchen hilft, gegenseitige Störungen unter den verschiedenen Aktivitäten zu vermindern und mühelose Gespräche sicherzustellen. Lärm von aussen soll bestmöglich abgeschirmt werden. Irritierende Klangreflexionen, unpassender Nachhall oder ein Flatterecho sind zu vermeiden. Harte Bodenbeläge sollten aufgebrochen werden, um Pflanzen und Bäumen Platz zu schaffen. Dies dient nicht nur einer angenehmen Akustik, sondern auch der Hitzeminderung.