Dienstagmorgen auf dem Zürcher Bürkliplatz. Trond Maag, Stadtplaner und wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BAFU in der Abteilung Lärm und nichtionisierende Strahlung, spaziert zwischen den zahlreichen grossen, alten Bäumen hindurch, deren Kronen ein dichtes Blätterdach über den Platz spannen. Trotz der Bepflanzung ist es hier ziemlich laut: Von der Strasse entlang des Seeufers schwappt ein konstantes Verkehrsrauschen herüber, ein Kanon brummender Motoren, durchsetzt vom Stakkato quietschender Tramräder. «Dass es hier mitten auf dem Platz trotz Bäumen so laut ist, liegt am asphaltierten Boden», sagt Maag. «Versiegelte und ebene Flächen leiten den Schall besonders gut, unversiegelte dämpfen ihn. Das merkt man beispielsweise dann, wenn frischer Schnee liegt.»
Bedürfnis nach Ruhe im Alltag
Der Verkehr ist die grösste Lärmquelle in der Schweiz. Gemäss Lärmmonitoring des Bundes sind rund 1,1 Millionen Menschen tagsüber – und fast so viele auch nachts – lästigem oder schädlichem Verkehrslärm ausgesetzt. Hinzu kommen Lärmemissionen von Baustellen, Industrie und Gewerbe. Die Mehrheit der von Lärm betroffenen Menschen lebt in Städten und Agglomerationen, und durch die bauliche Entwicklung nach innen verschärft sich das Problem: Zum einen entstehen Wohnungen vermehrt auch an lärmbelasteten Lagen und Gebäude werden näher an die Strassen heran gebaut, um die Grundstücksflächen besser auszunutzen. Zum anderen steigt mit der wachsenden Wohnbevölkerung auch das Verkehrsaufkommen.
Umso grösser wird das Bedürfnis nach Ruhe und Erholung im Alltag. Dafür reichen Wälder, Wiesen und Felder am Rand des Siedlungsgebiets nicht aus. «Es braucht mehr innerstädtische Grünräume, die vom Wohn- oder Arbeitsort zu Fuss erreichbar sind», sagt Lärmexperte Maag. Das können Grünanlagen wie Parks und Friedhöfe sein, Uferpromenaden und -terrassen, aber auch kleinräumige Rückzugsorte wie begrünte Innenhöfe oder Grünflächen und Plätze innerhalb von Siedlungen. Auch die Politik hat dies erkannt. Darum sollen mit der Revision des Umweltschutzgesetzes der Lärmschutz und die Siedlungsentwicklung besser aufeinander abgestimmt werden. So sieht das Gesetz künftig vor: Wenn zusätzlicher Wohnraum in bereits überbauten Gebieten geplant wird, müssen Freiräume für die Erholung geschaffen und weitere Massnahmen für den Schutz der Ruhe getroffen werden.
Auch das Auge hört mit
Was aber bedeutet Ruhe eigentlich? Und was braucht es, um in urbanen Gebieten Orte zu schaffen, an denen sich die Menschen tatsächlich erholen können? Solche Fragen untersucht Umweltpsychologin Nicole Bauer von der Forschungsanstalt WSL. Ein lautes Rauschen begleitet sie jetzt auf dem Spaziergang entlang der Reppisch, des kleinen Flusses, der sich wie ein grünblaues Band durch die Stadt Dietikon zieht, bevor er in die Limmat mündet. Bei den Bänken am Flussufer beträgt der Geräuschpegel des Wassers um die 57 Dezibel. Das ist etwa so laut wie vorbeifahrende Autos. Trotzdem würde man das Flussrauschen hier nicht als Lärm, also als ein unerwünschtes Geräusch, bezeichnen. Im Gegenteil: Es ist angenehm, weil es die Verkehrsgeräusche im Umkreis übertönt. «Anhand der Dezibel allein lässt sich nicht bewerten, als wie ruhig und erholsam ein Ort empfunden wird», sagt Nicole Bauer. «Ruhe ist mehr als die Abwesenheit von Lärm.»
In einer vom BAFU finanzierten Studie hat Bauer zusammen mit zwei Kolleginnen an zehn Standorten im Mittelland – darunter auch am Reppischufer in Dietikon – untersucht, welche Geräusche Menschen in Erholungsgebieten als angenehm empfinden und welche als störend. Naturgeräusche wie Vogelgezwitscher, quakende Frösche, summende Bienen und zirpende Grillen, das Plätschern eines Bachs und das Rauschen des Winds schätzten die Befragten besonders. Hörten sie aber Flugzeuge, Strassenverkehr oder Baustellenlärm, fühlten sie sich in ihrer Erholung gestört.
Ohren auf im Limmattal
Im Limmattal zwischen Zürich und Baden wird derzeit an einem akustischen Modellvorhaben gearbeitet. In seinem dichten Siedlungsgebiet, durchschnitten von einer der meistbefahrenen Autobahn- und Zugstrecken des Landes, herrscht ein ständiges Verkehrsrauschen – selbst im Flussraum und an den Talhängen. Trotzdem findet man auch hier Ruheorte, zum Beispiel entlang der Reppisch in Dietikon. Das vom Bund unterstützte Projekt «Ruheorte.Hörorte.» macht auf den Klang und die akustische Qualität der Umgebung aufmerksam. Mit Klangspaziergängen in mehreren Limmattaler Gemeinden und weiteren Initiativen lädt das Projekt dazu ein, die Landschaft mit den Ohren zu erkunden, und ruft die Bedeutung der akustischen Aussenraumgestaltung ins Bewusstsein.
Dies habe nicht allein mit der Lautstärke zu tun, sagt Bauer, sondern mit unserer Lärmwahrnehmung und Bewertung von Geräuschen: Solche, die nicht zur Umgebung passen, fallen uns mehr auf. «Wenn ich im Wald spaziere, ist das Geräusch, das meine Füsse beim Laufen auf dem Schotterweg erzeugen, ziemlich laut, womöglich sogar lauter als das weit entfernte Flugzeug. Ich bemerke die Schritte aber gar nicht, weil sie von mir selbst ausgehen und zum Waldspaziergang dazugehören, anders als das Flugzeug.»
Ausserdem nehmen wir Lautstärke relativ wahr. An einem ruhigen Ort hören wir Störgeräusche besser. Umgekehrt empfinden wir einen Ort als ruhig, wenn er weniger laut ist als die Umgebung. «Hinzu kommt, dass auch visuelle Aspekte dazu beitragen, wie wir einen Ort wahrnehmen», sagt Bauer. Die meisten fühlen sich gestresst, wenn sie sich in einer Fussgängerzone mit vielen vorbeieilenden Menschen aufhalten – selbst, wenn es dort nicht laut ist. Dagegen wirken eine natürliche Umgebung und der Anblick von Pflanzen erwiesenermassen beruhigend. Inwieweit visuelle Ruhe Lärm kompensieren kann, bleibt allerdings schwer zu quantifizieren.
Akustik in Züri City
Sich bei der Gestaltung von Freiräumen allzu sehr auf visuelle Aspekte zu verlassen, hält Trond Maag vom BAFU nicht für sinnvoll. «Grün ist immer besser als grau. Aber Bäume allein machen einen lärmigen Ort nicht leiser.» Um innerhalb des Siedlungsgebiets Erholungsräume zu schaffen, die nicht nur ruhig aussehen, sondern auch ruhig klingen, müssen viele Faktoren berücksichtigt werden: Die Entfernung zur Strasse, die Ausrichtung und Form umliegender Gebäudefassaden, die Topografie, die Bodenbeschaffenheit, Elemente wie Wasser und Vegetation – alles wirkt sich auf den Klang eines Orts aus.
Wie, zeigt Trond Maag auf dem Spaziergang durch die Zürcher Innenstadt. Vom Bürkliplatz geht es hinüber zum See in Richtung Arboretum, ein Park mit grossen Wiesenflächen, gesäumt von alten Bäumen. Obwohl die mehrspurige Strasse auf einer Seite um den Park herum verläuft, ist es hier dank des entsiegelten Bodens und der Abschirmung durch Bäume und Hecken bedeutend leiser als noch auf dem offenen Seequai.
Die nächste Station ist der Alte Botanische Garten. Er liegt erhöht auf einer Kuppe, ein Bollwerk der historischen Verteidigungsanlage der Stadt. Oben angekommen, nimmt man die Verkehrsgeräusche nur noch diffus wahr. «An einer erhöhten Lage wie dieser ist man automatisch weiter weg von der Strasse. Ausserdem schirmen die umliegenden Gebäude den Schall der Strassen ein Stück weit ab», erklärt Maag. Noch deutlicher wird der Effekt des Höhenunterschieds im Schanzengraben. Entlang des Wasserkanals, der See und Sihl verbindet, verläuft eine idyllische Promenade mitten durch die Innenstadt. Vom Verkehr der City bekommt man hier unten trotz der Nähe zum Hauptbahnhof so gut wie nichts mit – der Trubel ist weder hör- noch sichtbar.
Grünräume sind keine Lückenfüller
Die Tour durch Zürich zeigt: Grünräume bieten selbst an zentralen Lagen Ruhe und Erholung, sofern die Bedingungen stimmen. Die Gestaltung solcher Räume ist allerdings nicht immer einfach, denn je nach Akustik eines Orts braucht es ein Zusammenspiel verschiedener Massnahmen: Solche, die den Lärmpegel effektiv senken, wie etwa die Entsiegelung des Bodens, und solche, die die Lärmwahrnehmung verändern, zum Beispiel Wasser. Denn Flussrauschen oder ein plätschernder Brunnen werden, wie Nicole Bauers Studie gezeigt hat, als angenehm empfunden und können darüber hinaus den Verkehrslärm maskieren.
Wichtig sei es aber, Freiräume nicht als Lückenfüller zu betrachten, sagt Trond Maag. «Freiräume werden in einem Bauprojekt oft erst am Schluss noch dort hingesetzt, wo Platz ist. Das sind unter Umständen Flächen, die sich nicht zur Erholung eignen und die die Leute am Ende sogar meiden. Wir müssen den Freiraum von Anfang an mitdenken und ihm genauso viel Gewicht geben wie den Gebäuden.»