Als es am 20. und 21. August 2005 ununterbrochen regnete, brachte dies Dölf und Marie Waser in ihrem Bergbauernhof Schiltli lange nicht aus der Ruhe: Das Dörfchen Oberrickenbach im Kanton Nidwalden liegt in einem Seitental zum Engelbergertal, ihr Bauernhof liegt oberhalb des Dörfchens auf knapp 1100 Metern über Meer. Auch als sich in den steilen und schattigen Berghängen auf der gegenüberliegenden Talseite die ersten Murgänge lösten, war das nichts Neues für Dölf und Marie: Die Natur in den Bergen ist nun mal nicht immer angenehm. Manchmal rollen Steine die Wiesen hinunter, manchmal lösen sich Schneerutsche, im Frühling 1999 drang ein solcher sogar in die Küche ihres Wohnhauses ein.
«Voll i Gadä ine»
Als am dritten Tag des Regens aber die ersten Murgänge aus dem Weidland der Familie Waser brachen und einige davon die Zufahrtsstrasse vom Dorf hinauf unpassierbar machten, wurden sogar Dölf und Marie unruhig. «Ich ging nach draussen und sah den Weg im Hang, der voll Wasser war. Zudem floss Wasser den Reistigraben herunter. Das hatte ich noch nie gesehen, davon hatten weder mein Vater noch mein Grossvater jemals erzählt», erinnert sich Dölf. Ein Reistigraben ist eine grubenartige Vertiefung im Waldboden, in der früher die gefällten Baumstämme ins Tal hinuntergeschafft wurden. «Das Wasser kam unregelmässig, mal sehr wenig und dann wieder schwallartig. Da wurde mir klar: Im Reistigraben staut sich das Regenwasser – das ist gefährlich.»
Und dann passierte es: Ein «Stausee» brach, ein riesiger Sturzbach raste den Reistigraben hinunter und knallte gegen den Viehstall. «Voll i Gadä ine», sagt Dölf. «Da polterten auch viele Steine mit runter, manche mit einem Volumen von bis zu einem Kubikmeter.»
Tote Tiere
Innert Sekunden drückte die Schlammlawine tosend und krachend den Stall mitsamt den Kühen und 500 Kubikmeter Heu von seinem Fundament hinunter. Sechs Kühe waren sofort tot, der Stall vollständig zerstört – einer der grössten Einzelschäden und vor allem der grösste Schaden mit toten Tieren im Kanton Nidwalden, die Schäden am Kulturland noch gar nicht mitgerechnet. Die Bilder vom zerschlagenen Stall gingen durch die Medien.
Umleitung für den Murgang
20 Jahre später, an einem schönen August-Abend, scheint die Abendsonne milde ins Tal, auf dem Weg hinauf zum Hof Schiltli denkt man unweigerlich an «Bergidylle». Das Wohnhaus ist immer noch dasselbe. Der Stall ist längst wieder aufgebaut. Der Reistigraben wurde mit einer massiven, ins Gelände gebauten Ablenkmauer gesichert – sollten je wieder Oberflächenwasser oder ein Murgang den Reistigraben runterfliessen, wird die Gefahr an Stall und Haus vorbei umgeleitet.
«Der Anblick war schrecklich»
In der Küche sitzen Dölf und Marie mit ihrem Sohn Martin und ihrer Schwiegertochter Anita beim Kafi. Die junge Generation hatte 2004, ein Jahr vor dem Unwetter, den Hof offiziell übernommen. Im August 2005 weilten sie in den Ferien in Kanada und kamen zwei Tage nach dem Schaden wie geplant nach Hause zurück. «Wir mussten mit der Kleinseilbahn zum Schmiedsboden rauffahren und von dort runter ins Schiltli laufen, weil die Strasse unpassierbar war», erinnert sich Martin, «der Anblick schon von der Bahn aus war schrecklich.»
Die Hilfe und der Wiederaufbau kamen schnell. «Feuerwehr, Zivilschutz und Militär waren bei uns im Einsatz, viele Nachbarn und Freiwillige halfen», erzählt Marie, «das zu sehen war sehr schön.» Nach einer Woche war die Strasse wieder befahrbar. Nach einem halben Jahr wurden die Kühe, die damals auf der Alp waren oder den Sturzbach überlebt hatten, wieder eingestallt. Nach nur 15 Monaten war die Ablenkmauer im Gelände hinter dem Stall fertig erstellt.

Die Grossfamilie Waser vom Schiltli (v.l.): Samuel (18), Dölf (77), Marie (82), Sarah (17), Anita (45) und Martin (49). ©Christian Hug
Manchmal wird es Marie unheimlich
Und fühlen sich die Wasers heute sicher? Martin und Anita antworten zuerst. «Ja», sagt Anita, «Martin und ich waren ja nicht vor Ort, als es geschah – Das macht schon einen Unterschied, wie man sich fühlt, wenn es heute stark regnet, wir haben damals die Gefahr nicht direkt erlebt.» Martin: Und unsere Kinder Samuel und Sarah waren beide zum Zeitpunkt des Unwetters noch nicht geboren, sie kennen das Drama nur aus der Erzählung ihrer Grosseltern.»
Dölf: «Ich fühle mich sicher. Ich weiss aus Erfahrung, dass von der Natur Gefahr ausgehen kann. Aber seit die Ablenkmauer gebaut ist, ist der Reistigraben keine Gefahr mehr für uns.» Nur Marie zögert mit der Antwort. «Manchmal», sagt sie, «wenn es richtig ‘chuted’, dann wird mir schon ein bisschen ‘gschmuuch’. Aber so heftig wie 2005 hat es ja seither nie mehr geregnet.»