Wie werden Gefahren erfasst und bewertet? Wie lassen sich Überschwemmungen oder Trockenheit möglichst präzise vorhersagen? Und vor allem: Wie sieht eine effektive Warnung aus? Diese zentralen Fragen stehen im Fokus der internationalen Naturgefahren-Konferenz Rimma, die Ende Januar in Bern stattfindet. Zum ersten Mal überhaupt ist die Schweiz Gastgeberin, es werden rund 200 Teilnehmende erwartet. Professor Jürg Luterbacher referiert an dieser Konferenz über ein EU-Projekt, das ein Frühwarnsystem für Naturgefahren in Europa, dem Mittelmeerraum und Afrika entwickelt. Das Magazin «die umwelt» hat mit ihm gesprochen.

Professor Luterbacher, ganz allgemein betrachtet: Wo sehen Sie in Bezug auf Naturgefahren die grössten Herausforderungen?

Eine der grössten Herausforderungen im Umgang mit Naturgefahren liegt in der zunehmenden Komplexität durch den Klimawandel. Extremereignisse wie Hitzewellen, Überschwemmungen, Starkniederschläge, Stürme und Dürren nehmen nicht nur an Häufigkeit und Intensität zu, sondern treten auch vermehrt kombiniert auf - was ihre Vorhersage erschwert. Besonders wichtig ist die präzise Modellierung von Kaskadeneffekten – Prozesse, bei denen eine Naturgefahr weitere Risiken auslöst und die Gesamtschäden verstärkt. Um diesen Herausforderungen zu begegnen sind interdisziplinäre Ansätze, internationale Zusammenarbeit, koordinierter und freier Datenaustausch sowie gute Kommunikation unerlässlich.

Ende Oktober 2024 kam es in Spanien zu massiven Überschwemmungen. Die Region um Valencia traf es besonders hart. Die starken Niederschläge, Erdrutsche und Überschwemmungen forderten nach der jüngsten Bilanz über 200 Menschenleben.  Bild KEYSTONE/AP Photo/Emilio Morenatti

Ende Oktober 2024 kam es in Spanien zu massiven Überschwemmungen. Die Region um Valencia traf es besonders hart. Die starken Niederschläge, Erdrutsche und Überschwemmungen forderten nach der jüngsten Bilanz über 200 Menschenleben. Bild KEYSTONE/AP Photo/Emilio Morenatti

Wir müssen mit Naturgefahren leben lernen – und damit auch mit dem Restrisiko.

Dies erfordert eine Strategie, die alle gesellschaftlichen Ebenen einbindet. Wichtig ist die Aufklärung der Bevölkerung durch Bildungsprogramme und Informationskampagnen. Ebenso essenziell sind zuverlässige Frühwarnsysteme und vertrauenswürdige Kommunikationswege, um gefährdete Menschen rechtzeitig zu erreichen. Ergänzend dazu spielen robuste Infrastrukturen und naturbasierte Ansätze – wie die Renaturierung von Flussauen oder die Wiederaufforstung – wesentlich zur Risikominderung und der Stärkung ökologischer Widerstandsfähigkeit bei. Um Akzeptanz und Mitwirkung zu fördern, sollte die Bevölkerung aktiv in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Eine resiliente Gesellschaft gründet auf Eigenverantwortung, Solidarität und koordiniertem Handeln. Dies ermöglicht, unvermeidbare Risiken gemeinschaftlich zu bewältigen und ihre Folgen zu minimieren.

Das Erdbeben auf Haiti im Januar 2010 forderte rund 300'000 Todesopfer, schätzungsweise 1,85 Millionen Menschen wurden damals obdachlos. Bild: KEYSTONE/AP Photo/Rodrigo Abd

Das Erdbeben auf Haiti im Januar 2010 forderte rund 300'000 Todesopfer, schätzungsweise 1,85 Millionen Menschen wurden damals obdachlos. Bild: KEYSTONE/AP Photo/Rodrigo Abd

Welche Rolle kommt Frühwarnsystemen zu?

Natürlich eine zentrale. Die Herausforderung liegt darin, Daten in praxisnahe Frühwarnsysteme und Anpassungsstrategien zu übersetzen. Die Warnungen sind so zu kommunizieren, dass sie breit verständlich und nachvollziehbar sind. Regionen, die am stärksten von Naturgefahren betroffen sind – etwa kleine Inselstaaten und wenig entwickelte Länder – verfügen häufig über unzureichende Beobachtungsnetze. Das aktuell laufende EU-Projekt Mediterranean and pan-European forecast and Early Warning System against natural hazards (MedEWSa) arbeitet an der Entwicklung eines Frühwarnsystems gegen verschiedene Naturgefahren in Europa, dem Mittelmeerraum und Afrika. Ziel ist es unter anderem, bestehende Technologien neu auch mit AI-Tools zu verbessern und die Bedürfnisse von Ersthelfern in den Mittelpunkt zu stellen.

Sprechen wir über künstliche Intelligenz: Welche technischen Weiterentwicklungen in der Warnkette können Verbesserungen bieten?

Durch die Echtzeitanalyse komplexer Daten und die frühzeitige Erkennung von Mustern, die auf Naturgefahren hinweisen, ermöglicht moderne Technologie präzisere Vorhersagen. Hochauflösende Wettermodelle, Satellitendaten, oder auch Beobachtungsdaten ergänzen sich dabei optimal. Machine-Learning-Algorithmen modellieren Kaskadeneffekte und kombinierte Risiken - etwa durch Hitze und Luftverschmutzung - noch effizienter. KI-gestützte Frühwarnsysteme liefern personalisierte Warnungen, die lokale Risiken und spezifische Bedürfnisse berücksichtigen. Automatisierte Prozesse verkürzen Reaktionszeiten und optimieren die Ressourcennutzung. Durch die Analyse vergangener Ereignisse verbessern selbstlernende Systeme kontinuierlich die Vorhersagegenauigkeit. Ergänzend fördern Technologien wie Chatbots und automatische Übersetzungen die Krisenkommunikation, indem sie Sprachbarrieren überwinden. Sie stärken die Prävention und Resilienz gefährdeter Gemeinschaften und tragen so entscheidend zur Risikominderung bei.

1,2 Millionen Kubikmeter Felsschutt bedrohen das Bergdorf Brienz/Brinzauls (GR). Im November 2024 mussten die Einwohnerinnen und Einwohner aus Sicherheitsgründen das Dorf verlassen. Bild: KEYSTONE/Til Buergy

1,2 Millionen Kubikmeter Felsschutt bedrohen das Bergdorf Brienz/Brinzauls (GR). Im November 2024 mussten die Einwohnerinnen und Einwohner aus Sicherheitsgründen das Dorf verlassen. Bild: KEYSTONE/Til Buergy

Die UN-Initiative «Early Warning for all» zielt darauf ab, bis 2027 alle Menschen weltweit durch Frühwarnsysteme vor Naturgefahren zu schützen. Ein ambitioniertes Ziel.

Der Fokus liegt auf vier Säulen: Erstens, das Risikomanagement. Es konzentriert sich auf die Erfassung und Bewertung von Gefahren. Dann Erkennung, Beobachtung und Vorhersage, um präzise Daten zu Gefahren wie Stürmen, Überschwemmungen oder Hitzewellen bereitzustellen. Weiter die Warnkommunikation. Sie stellt sicher, dass Warnungen effektiv und rechtzeitig verbreitet werden. Und zu guter Letzt die Vorsorge- und Reaktionskapazitäten, um gefährdete Gemeinschaften auf Notfälle vorzubereiten. Die Initiative fördert Investitionen, Innovationen und globale Zusammenarbeit, um Frühwarnsysteme zugänglicher und effizienter zu machen, besonders für die am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen. Auf diese Weise sollen Leben und Lebensgrundlagen nachhaltig geschützt werden.

Jürg Luterbacher

Jürg Luterbacher ist Professor für Klimatologie, Klimadynamik und Klimawandel an der Universität Giessen (D). Daneben ist er Koordinator für das «Horizon Europe Project MedEWSa (Mediterranean and pan-European forecast and Early Warning System against natural hazards)». Ein Projekt, das der gebürtige Solothurner am 28. Januar an der Rimma2025 vorstellt. Jürg Luterbacher (56) hatte an der Universität Bern studiert, doktoriert und habilitiert.