Wir Menschen haben unsere Fernverkehrswege, Tiere haben die ihrigen. Wir nennen unsere Autobahnen oder Schnellzuglinien, jene für die Tiere heissen «Wildtierkorridore». Diese Tierwege sind zwar nicht ganz so eng abgesteckt wie unsere Strassen und Trassen, aber sie bilden doch ein klar definiertes Netz, an das sich Wildtiere auf ihren Wanderungen von Ost nach West und von Nord nach Süd halten. Sofern ihnen nicht plötzlich unüberwindliche Hindernisse in die Quere kommen.Dominante Verkehrsinfrastruktur
«Derzeit sind 16 Prozent der Wildtierkorridore unterbrochen und über die Hälfte beeinträchtigt», sagt Adrien Zeender, der bei der Sektion Landschaftsmanagement des BAFU für die ökologische Beurteilung der Nationalstrasseninfrastruktur zuständig ist. Verantwortlich dafür sind die Zersiedelung und die Verkehrsinfrastruktur, die Naturräume ganz allgemein unter Druck setzten: «Von den 1940er-Jahren bis zum Inkrafttreten der Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung 1988 hat man Strassen einfach gebaut, ohne sich Gedanken über die Auswirkungen auf Flora und vor allem Fauna zu machen.» Dabei hat man wenig Rücksicht auf Habitate und Transitachsen von Tieren genommen. Dass die Zerschneidung der Lebensräume für Wildtierpopulationen problematisch sein könnte, wurde den Verkehrsplanenden allerdings bald bewusst: Die ersten Passagen in Europa stammen bereits aus den 1960er-Jahren. «Man wusste zwar um das Problem, hat es lange aber nicht besonders ernst genommen», sagt Zeender.
Dabei sind viele Populationen zwingend auf Mobilität angewiesen – sei es, weil sie saisonale Wanderbewegungen kennen wie zum Beispiel Hirsche, oder weil es rasch zu Inzucht kommt, wenn das von den Autobahnen definierte «Gehege» zu klein wird für Wildtiere, die eigentlich grosse Territorien beanspruchen. «Das ist übrigens nicht nur für die Fauna wichtig, sondern auch für die Flora», sagt Zeender. Denn die Pflanzen profitieren davon, dass Tiere die Samen verbreiten, wenn Korridore wiederhergestellt werden. Und noch ein überraschender Befund: Auch für tief fliegende Fledermäuse sind Autobahnen ein Hindernis und werden allzu oft zur tödlichen Gefahr.
Lebensräume über Autobahnen
Nun werden die Versäumnisse der früheren Planungen nach und nach korrigiert, die Korridore werden «saniert», wie es im Fachjargon heisst. Das Mittel sind Wildtierpassagen, auch «Grünbrücken» genannt. Inzwischen gibt es in der Schweiz 44 Passagen für grosse Wildtiere, mitunter kommen auch Unterführungen zum Einsatz. Und genau genommen gehören zu der Palette von Wildtierpassagen auch Amphibientunnel oder Fischtreppen. Manche der Brücken für Wildtiere sind unscheinbar, andere fallen wegen ihrer Mächtigkeit sofort ins Auge. Denn bestenfalls sollte eine Grünbrücke breit sein: Fünfzig Meter sind nicht übertrieben, hat sich gezeigt. Zudem sind eine möglichst vielseitige und natürliche Gestaltung sowie eine gute Abschirmung gegen Scheinwerferlicht und Lärm wichtig, sodass möglichst viele Tiergruppen ungestört davon profitieren können.
Es wird also einiger baulicher Aufwand betrieben, um Tieren zu helfen, auf ihren Wanderungen Autobahnen und Gleise zu überwinden. Aber noch ist man nicht am Ziel. Das betont auch Cristina Boschi, die sich als Wildtierbiologin um die Passagen im Kanton Aargau kümmert: «Es besteht weiterhin ein grosser Bedarf an Passagen und weiteren Massnahmen, viel zu viele Korridore sind noch beeinträchtigt.»
Passagen tragen zur Sicherheit bei
Die radikalsten Barrieren für die Bewegung der Tiere stellen Autobahnen dar. Nicht in erster Linie wegen des dichten Verkehrs, sondern weil sie konsequent eingezäunt sind – ironischerweise zum Schutz der Wildtiere, aber auch der Autofahrenden. «Der Drang der Tiere, die Barrieren zu überwinden, ist gross» sagt BAFU-Experte Adrien Zeender, das wisse man von GPS-Untersuchungen.
«So gross, dass ein ausgewachsener Hirsch die zwei Meter hohen Autobahnzäune auch mal überspringt.» Oder das Wild folgt den Zäunen bis zur nächsten Einfahrt und landet dann auf der Fahrbahn. «Deshalb haben funktionierende Passagen auch einen Sicherheitsaspekt.» Aber auch Strassen ohne Einzäunung können für Wildtiere zu einer nahezu vollständigen Barriere werden, wenn sie entsprechend viel befahren sind. Man geht davon aus, dass ab über 10 000 Autos pro Tag eine Querung kaum mehr möglich ist. Entscheidend dabei sei vor allem die Frequenz in der Nacht, weil vor allem dann auf den Tierkorridoren «viel Verkehr» herrscht. Gilt das auch für die Strassen, wird es für die Tiere eng. «Das betrifft immer mehr Strecken in der Schweiz», sagt Zeender – er spricht von einem «gigantischen Verkehrszuwachs» in den letzten Jahren. Auch auf Kantonsstrassen wird sich das Problem deshalb verschärfen.
Über Strassen hinweg und unter Gleisen hindurch
Es braucht aber nicht immer aufwendige Bauten, um das Problem zu lösen. Gerade bei Kantonsstrassen geht das mitunter auch mit Wildwarnanlagen. Diese können im Prinzip in beide Richtungen funktionieren: Man warnt die Tiere, sobald gefährlicher Verkehr kommt, oder man warnt die Verkehrsteilnehmenden, sobald sich Wild in der Nähe der Strasse aufhält. Laut Zeender hat sich gezeigt, dass Letzteres in der Praxis viel besser funktioniert, mit Leuchtschildern zum Beispiel, auf denen «Achtung Wild!» aufscheint, gekoppelt mit einer vorübergehenden Temporeduktion.
Bei Eisenbahntrassen dagegen sei es umgekehrt, da Züge nicht so einfach bremsen könnten. Hier versucht man es mit bioakustischen Warnanlagen. Zwar können Tiere keine Warnhinweise lesen, aber sie reagieren sehr sensibel auf Warnrufe, zum Beispiel eines Eichelhähers oder eines Rehes. Noch eindringlicher sind Schmerzrufe von Wildschweinen, abgespielt, sobald ein Zug vorbeifährt. «So können Wildschweine lernen, dass ein herannahender Zug Gefahr bedeutet.»
Grundsätzlich aber seien Eisenbahnen ein kleineres Problem als Strassen: «Zunächst einmal sind sie nicht eingezäunt, zudem gibt es zumindest auf Regionalstrecken in der Nacht oft wenig bis keinen Verkehr.» Gleichzeitig erwähnt Zeender ein Beispiel, das deutlich macht, wie genau man hinschauen muss, um die ökologischen Auswirkungen der Verkehrsinfrastruktur zu erkennen. So hätte man erst seit Kurzem damit begonnen, Korridore von Amphibien entlang von Eisenbahnlinien zu kartieren. Quert ein solcher Bewegungskorridor eine Strasse, sind die toten Tiere auf der Strasse nicht zu übersehen. In der Schweiz gibt es aber auch mehrere hundert Standorte, wo Amphibien Bahngleise überwinden müssen, um zu ihren Laichgewässern zu gelangen – ein programmiertes ökologisches Drama, das oft unbemerkt bleibt. Sind die Wege aber bekannt, lässt sich die Verbindung mit einem abgesenkten Schotterbett unter den Gleisen wiederherstellen. So entsteht eine Öffnung, durch die die Tiere kriechen können.
Der Mensch im Weg
Diese Massnahmen bedeuten auch: Man erstellt zum Teil teure Infrastruktur, die dem Menschen direkt nichts nützt. «Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es Polemik gegen Wildtierpassagen gibt», sagt Zeender. Dass manche Passagen tatsächlich ein wenig «für die Füchse» sind, hat ganz direkt mit Menschen und ihrem Verhalten zu tun. Denn dass die Infrastruktur nicht für sie gedacht ist, hält manche nicht davon ab, sie trotzdem zu beanspruchen – seien es Jogger, Bikerinnen oder Spaziergänger mit Hunden. Das hat zur Folge, dass Tiere die Passagen meiden. «Wildtiere haben gelernt, den Menschen als Gefahr zu betrachten», erklärt Wildtierbiologin Cristina Boschi vom Kanton Aargau. «Eine Passage bietet wenig Ausweichmöglichkeiten. Wenn da zusätzlich noch menschlicher Geruch ist, dann trauen sich die Tiere nicht mehr hinüber.»
Deshalb gehört zu einem erfolgreichen Wildtierpassagenprojekt zwingend auch die Lenkung der Erholungssuchenden dazu. Boschi nennt verschiedene Massnahmen: Die Verschiebung von Wanderwegen und Forststrassen, aber auch das Anbringen von Informationstafeln, auf denen zufälligen Passantinnen und Passanten deutlich gemacht wird, dass ihre Anwesenheit störend ist. «Ebenfalls ist es Pflicht, zu jeder Passage eine Erfolgskontrolle zu machen», sagt Boschi.
Die Tiere zu den Brücken führen
Tatsächlich gebe es unter den Wildtieren auch «schwierige Kunden», gibt Zeender zu. Eine 2019 publizierte Untersuchung hat gezeigt, dass Hirsche Grünbrücken nur überqueren, wenn die Bedingungen optimal sind. Auch Wildschweine nutzen nur rund die Hälfte der untersuchten Passagen. «Darum ist es wichtig, nicht nur auf die Passage selbst zu fokussieren, sondern auch das Umfeld miteinzubeziehen.» So können Passagen gewissermassen «ausgeschildert» werden, damit sie von den Tieren gefunden werden. Gibt es etwa rund um Passagen bloss Ackerflächen, dann sind sie kaum zugänglich. Sie müssen mit dem umliegenden Kulturland vernetzt werden, es braucht Leitstrukturen, die Tiere zu den Brücken führen. Wer sich je in der Fremde unsicher gefühlt hat, kann es nachfühlen: «Wildtierpassagen sind nicht in erster Linie für die ortskundigen Tiere gedacht, sondern für die wandernden», sagt Zeender. Man sollte sie also möglichst optimal bauen, möglichst breit sowie lärm- und lichtgeschützt. Mit anderen Worten: möglichst losgelöst von menschlichem Verkehr.
Achtung Wildtierpassagen!
Normalerweise führen Wege, auf denen Menschen unterwegs sind, nicht in die Nähe von Wildtierpassagen. Stösst man dennoch auf einen Übergang oder eine Unterführung, die nicht für Menschen gedacht ist – das sieht man etwa an der dichten Vegetation ohne Wege –, dann sollte man den Ort rasch wieder verlassen und sich auch nicht im Eingangsbereich aufhalten. Denn Wildtiere können den Geruch eines Menschen oder eines Hundes noch lange wittern. Erfahrungen zeigen, dass Passagen rund zwei bis vier Stunden, nachdem ein Mensch sie benutzt hat, nicht von Wildtieren überquert werden.