Mirella Wepf bleibt stehen, zückt den Feldstecher und zeigt hinauf in die Baumkronen: Ein Buntspecht sitzt dort im Geäst, fliegt von einem Baum zum nächsten, um kurz danach zwischen den Stämmen zu verschwinden. Weiter entlang des Weges, der vom Albispass bei Langnau am Albis in den Sihlwald führt, macht sie auf einen längst abgestorbenen Baum am Waldrand aufmerksam: Hier hat ein Schwarzspecht auf der Suche nach Ameisen und Käferlarven mehrere tiefe, ovale Löcher ins helle, morsche Holz gehämmert.

Schwarzspechte haben ovale, tiefe Löcher in den Baumstupf gehackt. ©Marion Nitsch/Lunax/BAFU
Der Nutzwald wird zur Wildnis
«Es ist ein Paradies für Spechte hier», sagt Wepf, Kommunikationsverantwortliche der Stiftung Wildnispark Zürich, der Trägerin des Naturerlebnisparks Sihlwald. Die Wanderroute, auf der Wepf heute durch den Wald führt, hat sie anlässlich des diesjährigen Jubiläums «25 Jahre wilder Sihlwald» zusammengestellt und als Wandertipp beschrieben (siehe Kasten). In diesem Wald, der früher Brenn- und Bauholz für die Stadt Zürich lieferte, wird seit einem Vierteljahrhundert kein Holz mehr geschlagen. Alte oder abgestorbene Bäume dürfen hier stehen oder liegen bleiben. Nur wenn sie in unmittelbarer der Nähe der Wanderwege sind und ein Sicherheitsrisiko darstellen, werden sie umgesägt.
Wandertipp
Um den Wandel vom Nutzwald zur Waldwildnis erlebbar zu machen, hat Mirella Wepf zum im 2025 gefeierten Jubiläum «25 Jahre wilder Sihlwald» eine Wanderroute zusammengestellt und beschrieben. Die rund zweistündige Wanderung startet auf 790 m ü. M. beim Albispass und führt über rund 300 Höhenmeter hinab zum Besucherzentrum Sihlwald, vorbei an einem Aussichtsturm, an Spechtbäumen und Totholzinseln, an einem Amphibienteich und 200-jährigen Buchen. Ein Stück des Weges führt durch die geschützte Kernzone des Naturerlebnisparks, wo die Wege nicht verlassen und keine Pflanzen und Pilze gesammelt werden dürfen.
Abgestorbene Bäume bieten Nahrung und Lebensraum: In der Schweiz sind über 6000 Tier-, Pilz- und Pflanzenarten auf totes Holz angewiesen. Neben Bunt- und Schwarzspecht ist auch der seltenere Dreizehenspecht bereits mehrfach gesichtet worden im Sihlwald. «Nun warten wir noch auf die Rückkehr des Weissrückenspechts», sagt Wepf. Dieser kommt nur in naturnahen Wäldern mit sehr vielen toten und absterbenden Bäumen vor, die Vogelwarte schätzt den Schweizer Bestand auf 20 bis 30 Brutpaare.

Unter der Rinde eines abgestorbenen Baumes finden sich Asseln, Tausendfüssler - und Frassgänge des Borkenkäfers. ©Marion Nitsch/Lunax/BAFU
Rückkehr eines Urwaldreliktes
«Wenn der Lebensraum stimmt und grossräumig noch ein Artenpool existiert, kehren mobile Arten wie Vögel, Säugetiere und Insekten zurück», sagt Kurt Bollmann, der an der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL die Forschungseinheit Biodiversität und Naturschutzbiologie leitet. Wie rasch auch seltene Arten einen geeigneten Lebensraum wieder besiedeln können, habe ihn während seiner Forscherkarriere immer wieder überrascht. So hätte er etwa vor 20 Jahren nicht für möglich gehalten, dass er die Rückkehr des Fischotters oder der Zitronengelben Tramete in die Schweiz noch erleben würde.
Der Pilz ist extrem selten und gilt als Urwaldreliktart. Er wächst bevorzugt auf abgestorbenen Fichten, die davor vom Rotrandigen Baumschwamm befallen wurden. Im Rahmen der Monitoring-Projekte in den Naturwaldreservaten, welche das Totholzvolumen und das Vorkommen totholzliebender Käfer und Pilze erhob wurde die Zitronengelbe Tramete im Sihlwald nachgewiesen – zusammen mit gut 400 weiteren Pilz- und 350 Käfer-Arten, die Totholz zum Leben brauchen.

Der Sihlwald beherbergt mehr als 400 Pilzarten, die Totholz zum Leben brauchen. ©Marion Nitsch/Lunax/BAFU
Grösstes Reservat im Mittelland
Zwar sei der Sihlwald als Buchenmischwald nicht der artenreichste Lebensraum der Schweiz, sagt Bollmann. «Für die Biodiversität ist er dennoch sehr wertvoll.» Mit einer Fläche von 970 Hektaren umfasst er das grösste Naturwaldreservat im Mittelland, wo es sonst bisher fast nur Naturwaldreservate von wenigen Hektaren gebe. In der Schweiz sind aktuell rund 7,3 Prozent der Waldfläche Reservate, die nicht forstwirtschaftlich genutzt werden und wo die Biodiversität Vorrang hat. Bis 2030 soll der Anteil schweizweit auf 10 Prozent erhöht werden. «Insgesamt sind wir auf Kurs, aber das Mittelland hinkt hinterher und wird dieses Ziel wohl nicht erreichen», sagt Bollmann.
In der Schweiz gibt es 20 Pärke von nationaler Bedeutung: den Schweizerischen Nationalpark, 17 regionale Naturpärke sowie zwei Naturerlebnispärke, darunter der Wildnispark Zürich-Sihlwald. Naturerlebnispärke liegen in der Nähe dicht besiedelter Gebiete. Ihre Kernzonen bieten der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt ungestörte Lebensräume. Gleichzeitig ermöglichen sie vielfältige Bildungs-, Erlebnis- und Erholungsangebote – und tragen so wesentlich zur Lebensqualität der städtischen Bevölkerung bei. Der Naturerlebnispark Sihlwald zählte im vergangenen Jahr 156’000 Besuchende.
Ein Lernort und Freiluftlabor
Aufgrund seiner Grösse lassen sich im Sihlwald verschiedene Waldphasen gleichzeitig beobachten – vom Jungwald bis zum Zerfallsstadium. Hier lässt sich auch verfolgen, wie sich der Wald entwickelt, wenn der Mensch nicht eingreift, indem er beispielsweise vom Borkenkäfer befallene Fichten entfernt oder aktiv Baumarten fördert, die besser mit Hitze und Trockenheit umgehen können. «Das macht den Sihlwald zu einem einzigartigen Lern- und Erkenntnisstandort», sagt Bollmann. Und zu einem Freiluftlabor mit diversen Forschungsprojekten zur natürlichen Walddynamik. Diese dienen nicht nur zur Information der Besucher, sondern auch als Leitfaden für den naturnahen Waldbau. Zudem kann das natürliche Anpassungsvermögen des Waldökosystems an den Klimawandel beobachtet werden.
«Die natürliche Dynamik hat in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen», sagt Andrea Ryffel, Projektleiterin Monitoring, Forschung, GIS und Naturschutz des Sihlwalds. Mit mehr als 50 m3 pro Hektare sei der Totholz-Anteil des Sihlwalds gut doppelt so hoch wie der Schweizer Durchschnitt und sogar dreimal so hoch wie in anderen Wäldern des Mittellandes. Waldkauz, Hohltaube, Waldlaubsänger und Siebenschläfer fühlen sich hier ebenso wohl wie Zaun- und Waldeidechse, Ringelnatter, Geburtshelferkröte, Gelbbauchunke oder der Feuersalamander.


Bessere Vernetzung
Während in der Kernzone und Naturerlebniszone des Waldes gar nicht eingegriffen wird, führt das Rangerteam ausserhalb des Waldes und an Waldrändern regelmässig Massnahmen zur Förderung diverser Arten durch. Dort pflanzen sie beispielsweise einheimische Sträucher, von denen die Haselmaus, Vögel und Insekten profitieren. Letztes Jahr begleiteten sie die Wiederansiedlung von Steinkrebsen in einem der Bäche – eine einheimische Flusskrebsart, die stark gefährdet ist. Und wenn die Amphibien den Sihlwald verlassen, um zu ihren Laichgewässern zu wandern, stellt das Rangerteam - unterstützt von Freiwilligen - Schutzzäune auf und bringt die Tiere über die Strasse. In Zukunft sollen an mehreren Stellen zusätzliche Unterführungen geschaffen werden, sagt Ryffel: «Wir möchten den Sihlwald noch besser vernetzen.»

Der Weg führt vorbei an umgestürzten Bäumen, die im Sihlwald liegen bleiben dürfen: In der Schweiz bietet Totholz Lebensraum und Nahrung für mehr als 6000 Tier-, Pilz- und Pflanzenarten. ©Marion Nitsch/Lunax/BAFU
Begegnungen im wilden Herz des Waldes
Mirella Wepf führt durch die geschützte Kernzone. An einem steilen Hang hat 2021 ein Erdrutsch eine grosse Lücke in den Wald gerissen. Im feuchten Lehm entdecken wir die Spuren von Hirsch und Reh. Weiter unten geht es vorbei an 200-jährigen Buchen, abgestorbenen und kranken Fichten und Eschen. Zitronengelbe Tramete bekommen wir keine zu Gesicht, dafür zahlreiche Exemplare des Rotrandigen Baumschwamms, des Schuppigen Stielporlings und fast am Ende der Wanderung den Zunderschwamm, in dem ein Forscher letztes Jahr per Zufall einmal mehr eine Art entdeckte, die in der Schweiz als fast ausgestorben galt: den Kerbhalsigen Zunderschwamm-Schwarzkäfer.
Ein Teppich von blühendem Bärlauch erfüllt den ganzen Wald mit seinem Duft. Darüber vermischen sich der Gesang von Singdrossel, Zilpzalp, Zaunkönig, Buchfink und das Klopfen des Buntspechts zu einem Klangteppich, der nach und nach vom Rauschen der Sihltalstrasse abgelöst wird. Beim Verlassen des Waldes bleibt das Gefühl, eine lebendige Oase betreten zuhaben.