Sandra Limacher bekam die Verbundenheit mit dem Wald in die Wiege gelegt. Ihr Grossvater jagte, ihre Grossmutter verfügte über grosses Wissen zu Heilkräutern und sammelte sie im Wald. Ihre Erfahrungen gab sie an die nächsten Generationen weiter. «Wenn wir Kinder krank waren, machte uns unsere Mutter lieber einen Tee oder Wickel mit Heilkräutern, als dass es Medikamente aus der Apotheke gab», erinnert sie sich.
Später studierte Sandra Limacher in Westkanada Forstwirtschaft, Naturschutzbiologie und Wildtiermanagement und kehrte als Berufsfrau zum Sammelthema ihrer Jugend zurück: 2012 und 2024 erstellte sie als Co-Autorin im Auftrag des BAFU einen Bericht zum Zustand der Nichtholz-Waldprodukte (NHWP) in der Schweiz. Nichtholz-Waldprodukte? Hinter dem sperrigen Namen verbergen sich Produkte und Aktivitäten, die zum Alltag vieler Menschen gehören.
Jede sechste Person sammelt
NHWP sind biologische Güter aus dem Wald, die aber nicht aus Holz bestehen. Hierzulande gehören Wild, Waldpilze, Waldhonig und Kastanien zu den bedeutendsten. Wichtig sind aber auch Beeren, Wildkräuter und Rohstoffe für Heilmittel und Dekorationsmaterial für Feiertage oder alte Bräuche, wie Weihnachtsbaum, Tannenkränze und Mistelzweige.
Jeder sechste Erwachsene und jede zehnte Jugendliche gingen bei ihrem letzten Waldbesuch zum Sammeln, wie das Waldmonitoring Soziokulturell 2020 zeigt. Für Sandra Limacher ist dies ein Zeichen dafür, dass diese Menschen einen Bezug zum Wald haben und lokale oder selbst geerntete Produkte schätzen. «Diese Naturverbundenheit gilt es zu erhalten und zu stärken.»
Grosse Bedeutung in früheren Krisen
Vor rund 100 Jahren leistete das Sammeln von Pilzen und Kastanien in bestimmten Regionen und Bevölkerungsschichten einen wichtigen Beitrag zur Ernährungssicherheit. «Während Krisen wie den beiden Weltkriegen waren NHWP für die Bevölkerung ebenfalls enorm wichtig», ergänzt Sandra Limacher. Heute ist das Sammeln für die meisten ein Hobby. Es gibt aber auch Startups und Unternehmen, die mit Produkten aus dem Wald innovative Geschäftsmodelle entwickeln (siehe Video).
Wer was wo und wie viel sammelt oder erntet – darüber weiss man allerdings nur wenig. Gemäss Schätzungen und Hochrechnungen beträgt hierzulande der jährliche Wert von Waldhonig, Fleisch von Wildtieren, Waldpilzen und Kastanien zwischen 93 und 164 Millionen Franken.
Am besten dokumentiert ist die Jagd: In der Schweiz wurden 2022 Wildtiere im Wert von 22 Millionen Franken erlegt. Das deckt rund ein Drittel des Schweizer Wildkonsums ab. Imkerinnen und Imker ernten jährlich im Durchschnitt 2300 Tonnen Waldhonig im Wert von 64 Mio. Franken, was allerdings nur einen kleinen Teil des Schweizer Konsums deckt. Bei den Waldpilzen ist die Datenlage dünn: Je nach Ansatz zur Abschätzung liegt die gesammelte Menge pro Jahr zwischen 60 und 1200 Tonnen. Die grosse Spannweite hängt auch damit zusammen, dass der Ertrag stark vom Wetter abhängt.
Pilz-Tourismus
Sicher ist: Das freie Betretungsrecht des Waldes wird geschätzt und rege genutzt. Kantone erteilen Bewilligungen für die gewerbliche Nutzung von nicht geschützten Arten. Sie sind auch dafür verantwortlich, Wildtiere und Pflanzen vor Störungen zu schützen. Ob und in welchem Umfang sie das tun, ist allerdings nicht flächendeckend dokumentiert.
In der Schweiz nimmt der Druck auf die Lebensräume laufend zu, und es gibt Hinweise auf unrechtmässige Nutzungen, wozu etwa gewerbliches Sammeln ohne Bewilligung gehört, gemäss dem NHWP-Bericht 2024. Die Wildhut meldet auch Störungen durch Sammelnde. Im Kanton Tessin gab es politische Initiativen zur Eindämmung eines wachsenden Pilz-Tourismus aus dem benachbarten Norditalien. Unsere Wälder wurden in den letzten zehn Jahren durch Hitze, Trockenheit, Stürme, Schadorganismen und anhaltend hohe Stickstoffeinträge zunehmend belastet.
«Mehr WaldKnigge!»
Für Sandra Limacher braucht es deshalb eine verstärkte Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Die Arbeitsgemeinschaft für den Wald hat es mit der Erarbeitung des «WaldKnigge» vorgemacht. Darin werden Verhaltensregeln thematisiert. «Um Übernutzungen zu verhindern, ist es wichtig, den Menschen zu zeigen, was Sammeln und Pflücken mit Mass – also im ortsüblichen Umfang – bedeutet, und wann es eine Bewilligung braucht.»
Zudem sei es für eine längerfristig nachhaltige Nutzung der NHWP entscheidend, einen zentralen Akteur für Koordination und Aufbau von Know-how zu bestimmen. «Dieser könnte ein Netzwerk mit Praktikerinnen, Wissensträgern, Datenlieferantinnen, Anspruchsgruppen und Kommunikationsfachleuten aufbauen», sagt Sandra Limacher. «Und er würde die Aufsichtsorgane von Bund und Kantonen über aktuelle Erkenntnisse informieren.»
Beim BAFU sieht man das ähnlich. «Bis heute fehlt die genaue Einschätzung, welche wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung NHWP haben», sagt Clémence Dirac, Sektionschefin Waldleistungen und Waldpflege beim BAFU. «Dieses Wissen sollte vertieft werden.»
