Sandra Burlet, wenn wir hier durch den Sissacherwald spazieren – sehen Sie noch Bäume oder schon Baumaterial für die nächsten Hochhäuser?

Ich sehe schon noch Bäume. Aber seit ich Direktorin bei Lignum bin, der Dachorganisation der Schweizer Wald- und Holzwirtschaft, schaue ich den Wald anders an. Holz ist ein nachwachsender Rohstoff zum Bauen, und es hilft unserer CO2-Bilanz, wenn mit Holz anstatt mit umweltschädigenden, energieintensiven Materialien gebaut wird.

Urs Leugger-Eggimann, wie sehen Sie als Geschäftsleiter von Pro Natura und Biologe den Wald?

Primär als Lebensraum für Pflanzen, Tiere und Menschen. Natürlich ist mir bewusst, dass die verschiedenen Nutzungsinteressen ihre Berechtigung haben. Aber aus meiner Sicht ist die Biodiversität die Grundlage für alles. Ohne intakte Biodiversität haben wir auch kein hochwertiges Holz zum Bauen und zum Heizen und keinen Wald für die Erholung.

Wenn es um den Wald geht, sprechen Fachleute häufig vom Spannungsfeld zwischen Schutz und Nutzen. Wie sehen Sie das?

SB: Ich spüre durchaus ein Spannungsfeld. Wir von der Wald- und Holzwirtschaft haben das Gefühl, dass im Wald seit vielen Jahren der Schutzgedanke vorherrscht und der Gedanke der Nutzung verdrängt wird. Manchmal fragen wir uns, wo es überhaupt noch möglich ist, einen Nutzwald zu haben, aus dem man Holz nehmen kann.

ULE: Auch ich spüre ein Spannungsfeld. Ein Beispiel: Bei der wirtschaftlichen Nutzung des Waldes geht es ums Geld, das Holz muss so effizient wie möglich aus dem Wald geholt werden. Um die Biodiversität zu achten, braucht der Wald aber eine schonende Bewirtschaftung – und die ist teurer. Wir führen Gespräche und suchen nach Lösungen. Das heisst aber nicht, dass wir ständig streiten.

SB: Es ist ein Spannungsfeld, aber kein unpassierbarer Graben.

Junge Bäume wachsen in einem ehemaligen Waldgebiet. Schutznetze schützen die jungen Pflanzen vor Wildtieren.

In diesem Stück des Sissacherwaldes wurden vor sieben Jahren Bäume gefällt und geerntet. Nun wachsen hier neue Bäume, etwa junge Fichten und Föhren. © Severin Bigler/Lunax/BAFU

Wie ist es bei diesem Waldstück – hat die Holzernte der Biodiversität geschadet oder geholfen?

ULE: So pauschal kann man das nicht beantworten. Der Schweizer Wald hat zwei Defizite. Erstens: das Defizit an lichten Standorten. An gewissen Orten ist es wichtig, einzugreifen und Licht zuzulassen, damit sich lichtliebende Arten ansiedeln. Zweitens fehlt es dem Wald auch an alten und toten Bäumen. Sie sind Lebensräume für gewisse Tiere, doch sie werden häufig weggeräumt. Hier sieht man zwar, wie Licht das Wachstum fördert, aber aus Sicht der Biodiversität macht es mich skeptisch, dass hier viel Nadelholz und wenig Laubholz nachwächst. Hätten wir früher nicht gezielt Nadelholz als Bauholz gepflanzt, würde es hier aufgrund der Standortbedingungen anders aussehen. Mehr Laubbäume wären gut für mehr Licht auf dem Boden – und damit für die Biodiversität.

Der Schweizer Wald wächst jährlich um etwa 8 Millionen Kubikmeter nutzbares Holz. 2022 hat die Schweiz gut die Hälfte des Zuwachses geerntet. Warum nutzen wir nicht mehr?

SB: Diese Zahl muss man einordnen. Da, wo man den Wald gut bewirtschaften kann – im Mittelland zum Beispiel – nutzen wir einen grossen Teil des Holzzuwachses. Doch vielerorts ist es sehr aufwendig, ihn zu bewirtschaften. In den Bergregionen ist es sogar gefährlich und damit kaum wirtschaftlich. Darum wächst insgesamt mehr, als geerntet werden kann.

Auch als Heizmaterial wird Holz beliebter. Nimmt uns diese Nutzung als Energiequelle das Bauholz weg?

SB: Ich sehe tatsächlich seit Kurzem, dass sich ein Konflikt zwischen stofflichem und energetischem Nutzen abzeichnen könnte. Eigentlich wollen wir das Holz in der Schweiz in einer Kaskade nutzen: Zuerst als Bauholz, später als Brennholz. Nun gerät dieses Konzept unter Druck. Für Bestimmtes im Bau kann man auch qualitativ minderwertigeres Holz verwerten und dieser Bereich buhlt nun um das gleiche Holz wie die Energieproduktion.

ULE: Wir sehen das ähnlich. Die Kaskade muss eingehalten werden. Eine Mehrfachnutzung des Holzes bedeutet weniger Ressourcenverschwendung. Wenn Holz im Bau gebraucht wird, ersetzt es energieintensive Baustoffe wie Beton.

Ein ruhiger und friedlicher Ort inmitten des Waldes.

Die Gesundheit des Bodens beeinflusst die Bäume: Bei manchen dieser Fichten blättert die Rinde ab – ein Zeichen dafür, dass der Boden hier nährstoffarm und trocken ist. © Severin Bigler/Lunax/BAFU

Die Fichte ist der Brotbaum der Holzwirtschaft – aber nicht der Baum der Zukunft, weil er Mühe hat mit dem warmen und trockenen Klima. Trauern Sie der Fichte nach?

SB: Es stimmt, wer mit der Holzernte zu tun hat, mag die Fichte, aber mit ungesunden Bäumen können auch wir nichts anfangen. Auch wir brauchen Bäume, die ihren Standort mögen, um gut und schnell zu wachsen – da sind wir gar nicht so weit von Urs Leugger weg. Standortgerechte Bäume sind auch wichtig, weil wir uns den klimatischen Herausforderungen stellen müssen. Wir werden auch in Zukunft einen «Brotbaum» für die Verarbeitung brauchen.

Wie flexibel ist denn die Holzwirtschaft?

SB: Bei den Baumarten wird viel geforscht und weiterentwickelt. Die Umstellung von Verarbeitungs- und Produktionsprozessen ist aber auch mit Risiken und Investitionen verbunden, das geschieht nicht von heute auf morgen.

Was ist der Wald der Zukunft aus Sicht der Biodiversität?

ULE: Im Wald müssen wir in Generationen denken, in Zeiträumen von 30, 60 oder 120 Jahren. Das ist sehr schwierig. Ein vielfältiger Wald ist für diese Herausforderungen am besten geeignet, weil er resilienter ist. Ein einseitig zusammengesetzter Wald kippt viel schneller. Je nach Entwicklung, die wir heute noch gar nicht im Detail kennen, sind die einen oder die anderen Baumarten im Vorteil.

Die Douglasie aus Nordamerika gilt als mögliche Nachfolgerin der Fichte…

ULE: Gerade die Douglasie ist in Naturschutzkreisen teilweise zum Reizwort geworden.

Warum?

ULE: Weil andere so grosse Hoffnungen in die Douglasie setzen, sie aber keine einheimische Art ist und nur wenige einheimischen Insekten und Vögel beherbergen kann. Douglasien weisen eine geringere Artenvielfalt auf als heimische Baumarten.

Sandra Burlet

Sandra Burlet ist Direktorin bei Lignum Holzwirtschaft Schweiz, der Dachorganisation der Schweizer Wald- und Holzwirtschaft. Als Wirtschafts- und Staatswissenschaftlerin interessiert sie sich für die ganze Wertschöpfungskette des Holzes, mit Blick auf die stoffliche Nutzung am und im Bau. Die 52-Jährige ist FDP-Gemeinderätin in ihrer Wohngemeinde Oberrieden im Kanton Zürich.

Portraitfoto von Sandra Burlet
© Severin Bigler/Lunax/BAFU

Urs Leugger-Eggimann

Urs Leugger-Eggimann ist Geschäftsleiter von Pro Natura, der ältesten Naturschutzorganisation der Schweiz. Als Biologe setzt er sich für den Schutz und die Förderung von Natur und Landschaft in der Schweiz ein, ein besonderes Anliegen ist ihm die Biodiversität. Der 59-Jährige war Grüner Landrat im Parlament des Kantons Baselland.

Portraitfoto von Urs Leugger-Eggimann
© Severin Bigler/Lunax/BAFU

Der Spaziergang von Sandra Burlet und Urs Leugger-Eggimann endet am Anfang eines Biketrails und eines Wanderwegs. Diese führen parallel durch einen steil abfallenden Wald mit alten, dürren Baumbeständen.

Zahlen des Bundes zeigen, dass 95 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer in den Wald gehen, häufig sogar regelmässig. Das ist schön! Wo sehen Sie damit die Herausforderungen?

SB: Ich sehe eine Diskrepanz. Einerseits möchten wir gerne in einem ökologischen Holzhaus wohnen, andererseits reagieren wir empfindlich, wenn der Förster mit schwerem Gerät in den Wald fährt. Ich bin nicht sicher, ob es uns dabei nur um den Wald geht oder auch um unsere Ruhe. Vor allem in Stadtnähe fehlt manchmal das Verständnis, dass der Wald für verschiedene Zwecke da ist.

Ist die Lenkung wie hier mit dem Biketrail und dem Wanderweg sinnvoll?

ULE: Ja, das kann sinnvoll sein. Uns muss bewusst sein: Wir sind Gast im Lebensraum Wald und müssen Pflanzen, Tieren, anderen Menschen, auch Forstarbeitern mit Respekt begegnen. Eine Kanalisierung und Lenkung ist dann sinnvoll, wenn sie Menschen aus Naturschutzzonen, Biodiversitätshotspots oder gefährlichen Stellen weghält. Aber sie soll nicht dazu führen, dass wir uns überall nur noch auf breiten Waldwegen bewegen und an betonierten Grillstellen bräteln dürfen. So käme das Erleben des Waldes zu kurz.

Sie beide stehen für die beiden Pole in der Waldpolitik – für den Nutzen des Holzes auf der einen Seite und den Schutz der Natur auf der anderen. Wie weit sind Sie voneinander entfernt?

SB: Wir sind vielleicht gar nicht so weit auseinander. Innerhalb der Nutzungsansprüche gibt es aber sicher Konflikte, nämlich wie viel Holz wofür vorhanden ist – da haben wir vermutlich nicht dieselbe Meinung. Das Ernten von Holz muss auch nicht zulasten von anderen Ansprüchen an den Wald gehen. Denn Bäume zu fällen und damit den Wald zu verjüngen, ist vielerorts erwünscht und wichtig und im Sinne aller Waldfunktionen.

ULE: Wichtig ist, dass die verschiedenen Waldfunktionen an den dafür geeigneten Standorten realisiert werden. Spannungen können auf konkreten Flächen, aber auch bezüglich Flächenanteilen auftreten. Für mich ist klar: Die Biodiversität muss gemäss wissenschaftlichen Erkenntnissen und darauf basierenden internationalen Abkommen in Zukunft mehr Platz bekommen – da wird es sicherlich vermehrt Diskussionen geben. 

Wie sieht eine klimaschonende Holzwirtschaft aus?

Der Wald ist nicht nur von den Veränderungen des Klimas betroffen, er kann die Veränderungen des Klimas auch beeinflussen – verbessern oder verschlechtern. Wie er in Zukunft zum Beispiel den Treibhauseffekt verringern kann, hängt stark von seiner heutigen Bewirtschaftung und der Verwendung des Holzes ab.

Das Projekt «Klimaschutzleistung der Waldbewirtschaftung und Holzverwendung in der Schweiz (KWHS)» untersucht, wie die drei Klimaschutzleistungen «3S» – also die Sequestrierung von CO2 im Wald, die Kohlenstoff speicherung in Holzprodukten sowie die Substitutionseffekte aus der materiellen und der energetischen Verwendung von Holz – beeinflusst werden können. Mithilfe von Modellrechnungen werden im Projekt verschiedene Szenarien für die nächsten Jahrzehnte untersucht.

Bereits 2007 hatte das BAFU die Studie «CO2-Effekte der Schweizer Wald- und Holzwirtschaft; Szenarien zukünftiger Beiträge zum Klimaschutz» veröffentlicht.

Diese zeigte unter anderem, dass die Kaskadennutzung von Holz – also zuerst eine materielle Verwendung als Baustoff, danach eine energetische Verwendung als Brennmaterial – deutliche Vorteile im Vergleich zu einer gesteigerten energetischen Verwendung hat. Inzwischen gibt es verbesserte methodische Grundlagen und Möglichkeiten der Modellierung. Ausserdem bezieht das aktuelle Projekt die Auswirkungen im Ausland mit ein.

«Wir befinden uns heute in einem anderen politischen Kontext als im Jahr 2007», sagt Nele Rogiers, Projektleiterin der KWHS-Studie und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Wald des BAFU. «Die Schweiz und Europa sollen mit der Klimapolitik 2050 dekarbonisiert werden. Das dürfte dazu führen, dass die Treibhausgasemissionen von energieintensiven Produkten wie Stahl oder Beton zurückgehen.» Damit nehmen auch die positiven Effekte ab, wenn man diese Baustoffe durch Holz ersetzt. Solche Entwicklungen bezieht die KWHS-Studie mit ein. Die Resultate werden im Winter 2023/2024 veröffentlicht.

Video: Verhalten wir uns im Wald immer richtig?

Noch mehr Tipps erhalten Sie in diesem Leitfaden: «Freizeit und Erholung im Wald: Wald-Knigge»