Moreno Müller schiebt ein paar Zweige zur Seite und stapft zielstrebig über die vielen Äste, die den Waldboden bedecken. Er steuert einen der zahlreichen rot eingefärbten Stöcke an, die er vorgängig an verschiedenen Stellen in den Boden gesteckt hat. «Hier», sagt er und deutet auf einen kleinen Keimling, der zwischen dem braunen Laub hervorlugt, «eine Wildkirsche.» Und diese ist nicht allein. Im Umkreis von zwei Metern finden sich auch Keimlinge der Rot- und der Traubeneiche, Vogelbeeren, Stechpalmen, sowie junge Buchen und Tannen. «In diesem Gebiet gibt es bereits eine vielfältige Naturverjüngung», sagt Müller.
Er ist Förster beim Staatsforstbetrieb des Kantons Bern und führt an diesem kühlen Morgen Ende Mai durch den Komturenwald bei Niederwangen in der Gemeinde Köniz. Der Wald gehört dem Kanton und ist Teil des Könizbergwaldes, ein beliebtes Naherholungsgebiet. Das Waldstück, das er als Erstes zeigt, liegt rund zehn Spazierminuten von der Hauptstrasse entfernt und mutet auf den ersten Blick etwas chaotisch an. Fast so, als hätte kürzlich ein heftiger Sturm gewütet, der nur wenige Bäume verschont hat, die nun einsam in den Himmel ragen. Doch die Szenerie ist gewollt: Auf dem 2,5 Hektaren grossen Waldstück wurden rund 2000 Kubikmeter Holz entfernt, vorwiegend Buchen und Fichten. Der Eingriff erfolgte geplant und mit einem langfristigen Ziel: Der Wald soll verjüngt werden, damit er sich an den Klimawandel anpassen kann.
Vegetation wird sich verändern
Denn es ist längst kein Geheimnis mehr: Der Klimawandel setzt den Schweizer Wäldern zu. Dürren, Hitzeperioden, Stürme und Spätfroste haben die Bäume in den letzten Jahren geschwächt. Das macht sie anfälliger für Krankheiten und Schädlinge. Oder Bäume vertrocknen und sterben ab, wie dies 2019 in der Ajoie im Kanton Jura geschehen ist, wo Hunderte Hektaren Buchenwald abstarben. Leidet der Wald zu stark, kann er seine Funktionen nicht mehr wahrnehmen. Berechnungen des BAFU und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL zeigen zudem, dass sich die Vegetationshöhenstufen durch die Erderwärmung um 500 bis 700 Höhenmeter nach oben verschieben werden. Die Bedingungen im Wald werden sich also stark verändern.
«Die Situation ist herausfordernd, aber nicht aussichtslos», sagt Michael Husistein, Sektionschef Waldpolitik und Walderhaltung beim BAFU, der Moreno Müller auf dem Rundgang begleitet. «Wir haben Möglichkeiten und Werkzeuge, um den Gefahren entgegenzuwirken, die vom Klimawandel für den Wald ausgehen.» Ziel sei es, dass der Wald all seine Funktionen weiterhin wahrnehmen könne. Neben der Holzproduktion nennt Husistein den Schutz vor Naturgefahren, den Beitrag zur Biodiversität und auch den Erholungswert für die Bevölkerung. Erst kürzlich hat das BAFU zusammen mit den Kantonen und mit Einbezug des Verbands Schweizer Waldeigentümerinnen und -eigentümer den Bericht «Anpassung des Waldes an den Klimawandel» erarbeitet. Dieser wurde im Dezember 2022 vom Bundesrat verabschiedet und definiert 19 kurz-, mittel- und langfristige Massnahmen, die auch in Zukunft sowohl die Schutzwirkung wie auch die Nutzung der Wald- und Holzressourcen sicherstellen sollen. Weit oben auf der Liste der Massnahmen steht eine «zukunftsfähige Waldverjüngung».
Durchmischung mindert Risiko
Was auf dem Papier einfach tönt, ist in der Praxis komplex. Als Erstes gilt es zu bestimmen, welches Waldstück von einer Verjüngung profitieren würde. Der Staatsforstbetrieb Bern kennt dank der Auswertung von Satellitendaten die Alterszusammensetzung der Wälder und kann daraus ableiten, ob sich eine Verjüngung aufdrängt oder noch zugewartet werden kann. Beim Komturenwald haben die Erhebungen ergeben, dass dieser einen «Überhang an altem Holz» aufweise und daher rasch Massnahmen ergriffen werden sollten, erzählt Förster Moreno Müller. Durch das Fällen alter Bäume – vorwiegend Buchen und Fichten – erhielten die Jungbäume genügend Licht und Raum zum Wachsen. Und: «Auch Baumarten, die noch nicht stark im Wald vertreten sind, erhalten so die Chance, sich zu entwickeln.» Eines der Ziele sei ja gerade, die Durchmischung im Wald zu fördern. Das sei vergleichbar mit einem Anlageportfolio bei der Bank, sagt Müller: Wer diversifiziert, reduziert das Risiko und kann einen einzelnen Ausfall besser verkraften – auf den Wald bezogen etwa einen Schädlingsbefall einer Baumart. Gleichzeitig leistet die Mischung einen Beitrag zur Biodiversität.
Naturverjüngung hat sich bewährt
Dass die Förster dafür grössere Flächen deutlich auflichten, hat seinen Grund: Zwar sei es möglich, nur einige wenige alte Bäume zu ernten, sagt Müller. Davon würden aber vor allem Schatten- und Halbschattenbaumarten profitieren, die auch bei wenig Licht gedeihen, etwa Buche und Tanne. Im Hinblick auf den Klimawandel sei es aber wichtig, Lichtbaumarten zu fördern, die Wärme und Trockenheit besser vertragen. Um für diese Bäume die nötigen Voraussetzungen zu schaffen, brauche es einen entsprechend starken Eingriff. Sollten sich die gewünschten Baumarten nicht durchsetzen, gibt es zusätzlich die Möglichkeit, künstlich zu verjüngen, also neue Bäume zu pflanzen. Auch diese Massnahme ist im Bericht «Anpassung des Waldes an den Klimawandel» aufgeführt. Hier gilt es, in erster Linie auf einheimische Arten zu setzen, die an das zukünftige Klima angepasst sind. Je nach Standort können das zum Beispiel Eichen, Lärchen oder Ahorne sein. In den meisten Fällen sei es aber nicht nötig, Bäume anzupflanzen, sagt Müller. «Die Naturverjüngung hat sich bisher bewährt.»
Bäume wecken Emotionen
Auf dem Weg zurück zum Waldweg kommt dem Förster eine Frau entgegen, die mit ihrem Hund unterwegs ist. Die beiden grüssen einander, wechseln ein paar Worte. «Wenn ich im Wald arbeite, werde ich oft angesprochen», sagt Müller. Und häufig muss er dann seine Arbeit erklären, manchmal gar rechtfertigen. Denn obwohl die Waldverjüngung wie hier im Komturenwald dem Schutz von Wald und Klima dient, sorgt sie in der Bevölkerung immer wieder für Unmut. «Viele haben das Gefühl, wir fällen wahllos Bäume und zerstören so die Natur.»
«Bäume sind ein emotionales Thema», sagt auch Mirjam Richter, die beim Staatsforstbetrieb für die Kommunikation zuständig ist. Gerade in urbanen Gebieten, wo der Wald vorwiegend der Erholung diene, kochten die Emotionen regelmässig hoch. Viele Leute hätten eine fixe Vorstellung davon, wie ein Wald auszusehen habe. «Eine abgeholzte Fläche passt da nicht ins Bild.» Darum sei es wichtig, aktiv zu kommunizieren und den Leuten zu erklären, warum die Massnahmen durchgeführt werden. Aus diesem Grund veranstaltet der Staatsforstbetrieb Bern regelmässig Informations veranstaltungen vor Ort. «Sobald die Leute verstehen, warum wir eingreifen, können sie die Massnahmen meist gut nachvollziehen», sagt Richter.
Schweizer Holz für den Klimaschutz
Im Wald ist Förster Moreno Müller nun bei einem Stapel Baumstämme angelangt. «Das sind Fichten, weiter vorne liegen Buchen.» Eine blaue Nummer auf dem Holz kennzeichnet den Käufer. Diese Stämme werden bald in eine Sägerei im Berner Oberland verfrachtet, wo sie zu Brettern weiterverarbeitet werden. Was dereinst daraus entstehen wird, darüber kann Moreno Müller nur spekulieren. «Möbel? Ein Boden? Vielleicht ein Chalet.»
Mirjam Richter betont, dass der Staatsforstbetrieb seine Verantwortung, Schweizer Holz zu produzieren, weiterhin wahrnehmen wolle. Die inländische Produktion leiste einen wertvollen Beitrag an den Klimaschutz, zum einen, weil Holz eine bessere Klimabilanz als andere Baustoffe hat. Zum anderen: «Holz, das wir in der Schweiz produzieren und verarbeiten, verursacht nur kurze Transporte. Gleichzeitig müssen wir weniger Holz aus dem Ausland importieren.» So schützt die eigene Produktion auch Wälder in Ländern mit tieferen ökologischen Standards.
Künftig durchmischter und artenreicher
Die Verjüngung des Komturenwalds ist noch längst nicht abgeschlossen. Im nächsten Winter soll auf einem angrenzenden Waldstück geholzt werden. Noch ist dieses allerdings nicht gut zugänglich, immer wieder zwingt das dornige Gestrüpp Moreno Müller zu Umwegen.
Zu seinen Aufgaben gehört derzeit, die Bäume mit Sprayfarbe zu markieren. Ein gelber Streifen bedeutet «fällen». Trägt Müller ein blaues, ausgefülltes Dreieck auf, handelt es sich um einen Habitatbaum, der Tieren und Pflanzen als Lebensraum dient und daher bis zum natürlichen Zerfall stehen gelassen wird.Auch nicht gefällt werden die Rot- und Traubeneichen, Lärchen, Douglasien und Spitzahorne, auf die der Förster blaue Kreise sprayt. «Sie gelten als Zukunftsbaumarten und sollen weiter wachsen und sich verbreiten können.» Kann Müller heute schon sagen, wie der Wald in 50 Jahren aussehen wird? «Ähnlich wie heute, einfach durchmischter und artenreicher.» Die Fichte werde man hier allerdings nur noch selten antreffen, zu sehr wird ihr das wärmere und trockenere Klima zusetzen.
«Von ihr müssen wir uns im Mittelland wohl verabschieden.» Müller ist aber zuversichtlich, dass der Wald seine Funktionen weiterhin erfüllen könne. Und: «Er wird für die Menschen auch künftig unverzichtbar sein.»
Ein erweitertes Handbuch als Hilfe bei Waldschäden
Anfang Januar 2018 fegte der Sturm «Burglind» mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 250 Kilometern pro Stunde über die Schweiz und richtete in den Wäldern grossen Schaden an. Rund 1,3 Millionen Kubikmeter Holz wurden damals vom Wintersturm gefällt. Nur «Lothar» und «Vivian» hatten in den 30 Jahren davor noch grösseren Schaden angerichtet. Dazu kommt die zunehmende Trockenheit, die Bäume zusätzlich schwächt und anfällig macht für Krankheiten und Schädlinge. Man spricht in diesem Fall von einem Kombinationseffekt.
Zwar hat es solche Ereignisse schon immer gegeben, doch in den letzten Jahrzehnten haben sie stetig zugenommen. Und diese Entwicklung geht in die gleiche Richtung weiter: Modellrechnungen sagen häufigere und intensivere Extremereignisse als Folge des voranschreitenden Klimawandels voraus. Wie mit solchen Schäden umgegangen werden soll und wie sie allenfalls vermieden werden können, hielt der Bund bereits 1984 im «Waldschaden Handbuch» fest. Nach dem Sturm «Vivian», der 1990 über die Schweiz fegte, wurde das Werk überarbeitet.
Danach flossen in eine weitere Auflage auch die Erkenntnisse aus den Aufräum- und Wiederherstellungsarbeiten nach dem Jahrhundertsturm «Lothar» von Ende 1999 ein. Jetzt wird das Handbuch mit den Erfahrungen aus den Ereignissen der letzten Jahre und den sichtbar gewordenen Kombinationseffekten erneut überarbeitet.
Damit der Schutzwald (klima-)fit bleibt
Die Zahlen sind eindrücklich: Rund die Hälfte des Schweizer Waldes ist Schutzwald. Oder anders gesagt: ein Sechstel der gesamten Landesfläche. Gerade aus dem schweizerischen Alpenraum sind die Schutzwälder nicht wegzudenken. Sie schützen Menschen, Siedlungen und Verkehrswege vor Naturgefahren wie Lawinen, Steinschlag oder Erdrutschen. Damit der Wald seine Schutzfunktion langfristig erfüllen kann, muss er entsprechend gepflegt werden.
«Wie diese Pflegemassnahmen aussehen müssen, hängt von der Naturgefahr und dem Standort ab», sagt Kathrin Kühne, Projektleiterin in der Sektion Rutschungen, Lawinen, Schutzwald beim BAFU. Grundsätzlich muss der Wald so aufgebaut sein, dass er seine Schutzfunktion bestmöglich und nachhaltig erfüllen kann. Als optimal gilt, wenn die Baumarten sowie die Alters- und Durchmesserklassen der Bäume durchmischt sind.
Auch der Klimawandel muss bei der Pflege von Schutzwäldern berücksichtigt werden. «Aufgrund der wärmeren und trockeneren Bedingungen werden gewisse Baumarten künftig an manchen Standorten nicht mehr gut gedeihen», sagt Kühne. So wird etwa die Fichte in tieferen Lagen Probleme bekommen. Dagegen werden andere, klimafitte Baumarten in Zukunft wichtiger, etwa Tannen, Buchen und Bergahorn. Sie können gepflanzt und gefördert werden und so die Fichten ersetzen und deren Schutzfunktion übernehmen.
Obwohl der Schutzwald durch den Klimawandel unter Druck gerät, wird er seine Funktion also auch in Zukunft erfüllen können, sagt Kühne. Es könne aber vorkommen, dass Schutzlücken entstünden, zum Beispiel als Folge eines Sturms. «Diese gilt es temporär zu überbrücken, zum Beispiel mit Schutznetzen oder Holzverbauungen.» Das seien allerdings keine langfristigen Lösungen. Nicht zuletzt, weil es viel zu teuer wäre, diese auf grösseren Flächen zu installieren.