Am Ortseingang von Rossa (GR) zuhinterst im Calancatal steht eine Kapelle mit bunten, abstrakten Motiven an den Aussenwänden. Auf dem Wanderweg hoch zum Weiler Scata trifft man auf weitere kunstvoll bemalte Gotteshäuser. Wie die zehn Holzpavillons in den Wäldern Rossas sind sie Teil des Kunstprojekts RossArte, das der bekannte Tessiner Architekt Davide Macullo lanciert hat. Er ist ganz vernarrt in das kleine Bergdorf, aus dem seine Vorfahren stammen.

Bunt bemalte Kapelle oberhalb des Dorfes Rossa. Der auffällige Anstrich ist Teil des Projekts RossArte, das durch Kunst und Architektur das gesamte Calancatal aufwerten will. ©Fabrice Fouillet
Hier hat er sein erstes Haus für den Bruder gebaut und später das aufsehenerregende SwissHouse, einen skulpturalen Holzbau mit rosa-grüner Fassade. Mit RossArte wollen Davide Macullo und sein Team durch Kunst und Architektur das Dorf und das gesamte Calancatal aufwerten, seine Identität als Arbeits- und Wohnort stärken und Gäste einladen, das Tal zu entdecken.
Unbekannte Schönheit
Das Calancatal ist zwar in der Wanderszene sehr beliebt, doch die Bekanntheit eines Verzasca- oder Maggiatals erreicht es bei Weitem nicht. Auf ihrer Fahrt von Italien nach Norden müssen sich Reisende kurz nach Bellinzona (TI) entscheiden, ob sie die Alpen über die San-Bernardino-Route oder durch den Gotthardtunnel queren wollen. Meist wissen sie nicht, dass es parallel zwischen den beiden wichtigen Verkehrswegen ein spektakuläres Tal mit zahlreichen Wasserfällen, historischen Kirchen, Steinbrücken und intakten Dorfkernen zu entdecken gibt. Es zählt zum Grigione italiano, dem italienischsprachigen Graubünden.

Die Calancasca ist ein 31 Kilometer langer Wildwasserfluss, der das gesamte Calancatal südwärts durchströmt. ©Agentur Palorma
Versteckter Taleingang
Der Taleinschnitt liegt im Misox, versteckt hinter einer mächtigen Felsformation, danach windet sich die Strasse immer weiter hinauf, während unten in der Tiefe der Fluss Calancasca vorbeirauscht. Erst beim Stausee Molina eröffnet sich der freie Blick ins Tal. Und rasch stellt man fest, dass es hier äusserst mühevoll ist, Landwirtschaft zu betreiben. Auf beiden Seiten des Tals erheben sich steile, dicht bewaldete Hänge. Mit Ausnahme der beiden Terrassensiedlungen Braggio und Landarenca, die beide mit Seilbahnen erschlossen sind, liegen alle grösseren Siedlungen im Talboden. Offene Hangterrassen gibt es nur wenige, und die höher gelegenen Alpbereiche sind abschüssig und mit Felsen durchsetzt.
Rückzug der Landwirtschaft
Es überrascht daher nicht, dass die Landwirtschaft im Calancatal bereits in den 1960er-Jahren massiv eingebrochen ist, weil sich die Jungen von ihr abwandten. Einige fanden Arbeit in lokalen Handwerksbetrieben oder im Steinbruch von Arvigo. Mit seinen 30 Stellen ist das Familienunternehmen noch heute der grösste Arbeitgeber im Tal und exportiert Gneis-Platten von höchster Qualität. So wurde etwa der riesige halbrunde Platz vor dem Kloster Einsiedeln (SZ) mit Calanca-Gneis neu gepflastert.

Die von Lärchen umgebene Buffalora-Hütte liegt in einem Geländekessel auf fast 2100 Meter über Meer. Sie ist ein Etappenort auf dem Höhenweg, der zum Passübergang ins benachbarte Misox führt. ©Agentur Palorma
Viele junge Bauernsöhne und -töchter suchten Jobs in Bellinzona oder wanderten aus. Dadurch sind mehrere Alpen, Käsereien und Maiensässe inzwischen nicht mehr in Betrieb und der Wald breitet sich wieder aus. In Rossa etwa sieht man heute viele junge Birken. Weiter oben stehen Fichten, dicht an dicht.
Auf einem zugewachsenen Hang oberhalb des Dorfes wurden 2014 die Überreste einer alten Siedlung mit Dutzenden von Ackerbau-Terrassen und Trockenmauern mit einer Gesamtlänge von 1000 Metern freigelegt. Die Siedlung Scatta entstand bereits im frühen 16. Jahrhundert und wurde 300 Jahre später abrupt aufgegeben, vermutlich nach einem grossen Lawinenniedergang.
Heute erscheint die Anlage wie ein offenes Lehrbuch zur traditionellen Bautechnik. «Scatta ist ein kostbares Zeugnis regionaler Bauernkultur», erklärt Giulia Pedrazzi, Geschäftsführerin des Parco Val Calanca. Der Park versuche nun, den Ackerbau in Scatta wiederzubeleben. Auf einigen Terrassen hat man kleine Äcker angelegt, wo verschiedene alte Kartoffel-, Mais- und Roggensorten wachsen.
Die Bedeutung der Kastanie
Auch die traditionelle Kastanienkultur will der Park wiederbeleben. In Buseno am Eingang des Tals liess der Revierförster Emmanuele Neve einen alten Kastanienhain mit mächtigen, teils 350 bis 400 Jahre alten Bäumen sanieren. Diese Selve war zuvor komplett zugewachsen, und die Edelkastanien wurden während Jahrzehnten nicht mehr genutzt. «Wir haben 1200 Kubikmeter Holz entfernt und die Wiese neu angesät», erklärt der Förster. Die mächtigsten Kastanienbäume hat man kartiert und beschrieben, manche mit Stützen und Bändern stabilisiert.

Bei Buseno hat man eine völlig verwilderte Kastanienselve ausgelichtet, um im Tal die traditionelle Kastanienkultur wieder zu beleben. ©Nicolas Gattlen
Bald schon dürfen die 30 Landbesitzer und Eigentümerinnen wieder Kastanien ernten, worauf sich alle freuen. «Die Kastanie war einst der Brotbaum der Armen», sagt Emmanuele Neve. «Die Früchte wurden auf vielfältige Weise genutzt. Man kochte sie etwa im siedenden Wasser oder über dem Feuer und machte daraus Mehl.» Zudem dienten Früchte und Blätter als Futter für Schweine und Geissen, die man auch in der Selve grasen liess.
Streifzüge durch aussergewöhnliche Landschaften
Das vom Bund entwickelte Konzept der Regionalen Naturpärke will insbesondere Randregionen dabei unterstützen, ihre herausragenden Kulturlandschaften und Naturschätze in Wert zu setzen, um so einen sanften Tourismus zu fördern.
Im reich bebilderten Sachbuch «Die Schweizer Pärke» porträtiert das Autorenteam der Journalistengemeinschaft OECOCOM die vielfältige Pärkelandschaft der Schweiz. Die Streifzüge durch 20 Pärke, welche auch den Nationalpark und zwei Naturerlebnispärke umfassen, stellen charakteristische Gegenden mit ihrem Reichtum an kulturellen und landschaftlichen Highlights vor. Zudem gehen sie der Frage nach, was die Pärke in den jeweiligen Regionen bewirken, wobei neben Erfolgsgeschichten auch Versäumnisse und Fehlentwicklungen dokumentiert werden.
«Die Schweizer Pärke», 256 Seiten; Haupt Verlag, Bern; Mai 2025